Mit Freude an die eigene Quelle kommen.

Annerose Krämer-Hübner

Beim Gesang ist der Körper Instrument und über diesen verfügen alle Menschen. Da auch der Tanz den Körper einsetzt und dabei Körperspannung und -beherrschung schult, ergänzen sich die beiden Disziplinen. Seit September 2010 haben die Schüler der 11. Klasse der Waldorfschule am Kräherwald die Chance, einen individuellen Zugang zu ihrer Stimme, dem persönlichsten aller Instrumente zu finden. Das Projekt Gesang & Tanz wird geleitet von Josef Wiest (Musik), Christian Sommerlad (Schauspiel) und Annerose Krämer-Hübner (Gesang). 

Aufbau des Projektes

Die Scheu vor der eigenen Stimme ist meistens groß. Um sie zu entwickeln, bedarf es anfangs eines geschützten Rahmens. Doch im Lauf des Projektes wird es für die Schüler immer selbstverständlicher, vor anderen zu singen. Jeder setzt mit der Stimmentwicklung an, wo er oder sie gerade steht, und für alle sind die Weiterentwicklung und Ästhetisierung hörbar und nachvollziehbar. Das Projekt endet jedes Jahr mit einer Werkstattaufführung, bei der die Schüler – solistisch, im Duett oder in der Gruppe – ihre Stimme mit Freude und in berührender Weise vor Publikum zeigen.

Von Weihnachtsliedern zur West Side Story

Mit Beginn der 11. Klasse treten alle Schülerinnen und Schüler in eine Kennenlernphase ein, in der sie während der Musikdoppelstunde in kleinen Gruppen 15 bis 20 Minuten Stimmbildung erhalten, dazu 15 Minuten mehrstimmiges Singen und 55 Minuten Tanzunterricht in halber Klassenstärke. Dabei sollen sie zunächst eine Vorstellung davon bekommen, was es heißt, die Stimme zu entwickeln. Die Schüler erfahren, dass ein freier, natürlich klingender Ton entsteht, wenn sie die resonanzbegünstigenden Ansätze mit der Tiefatmung, der entsprechenden Atemmuskulatur und dem Zwerchfell verbinden. Zentral ist hierbei eine deutliche, lebendige, nach vorne orientierte Sprache, die den Inhalt der Literatur erlebbar macht und zugleich hilft, Körper und Stimme in harmonischer Weise zu verbinden. Die Schüler werden dann, ihrem Interesse und Engagement entsprechend, in zwei Gruppen aufgeteilt. Etwa 80 Prozent werden weiter in Stimmbildungsgruppen betreut, in der Regel zu zweit pro Einheit. Nach Möglichkeit gibt es auch Einzelförderung. Die Übrigen nehmen verstärkt am mehrstimmigen Singen teil. Ein erster Auftritt findet im Advent statt. Die Schüler singen in einem Seniorenheim traditionelle Weihnachtslieder. Das Singen vor Publikum wird erstmalig mit Liedern gewagt, die für Anfänger gut zu bewältigen sind.

Um eine Aufführung zu meistern, bedarf es der Übung im Auftreten. Daher gibt es drei interne Vorsingen, für die Literatur in unterschiedlichen Besetzungen erarbeitet wird. Die geeignetsten Stücke werden für die Abschlussaufführung ausgewählt. Die Schlussnummer ist vorzugsweise ein Stück, das Gesang und Tanz miteinander verbindet. Jeder Schüler kann in der von ihm gewählten Form auftreten. Mit dem Fortschreiten des Projektes wächst sichtbar das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten, sodass auch der Wunsch nach solistischen Darbietungen zunimmt.

In der 12. Klasse wird am Kräherwald ein Klassenspiel inszeniert, und hier gibt es die Option, dieses mit Gesang und Tanz zu kombinieren. So geschah es im November 2011, als die Klasse 12 a die West Side Story von Leonard Bernstein mit großem Orchester aufführte.

Der beseelte Klang macht Gänsehaut

Einer Studie von Albert Mehrabian zufolge hängt ein Großteil (knapp 40 Prozent) unserer Einschätzung anderer Menschen von der Wahrnehmung ihrer Stimme ab. Die Stimme ist elementares Ausdrucksmittel des Menschen. Eine wohltönende, wandlungsfähige Stimme mit klarer Aussprache in Verbindung mit einem selbstbewussten Auftreten ist lebenslang von unschätzbarem Wert. Die Ausdruckmöglichkeiten zu erweitern, ein Grundverständnis für einen gesunden Einsatz der Stimme zu entwickeln – das braucht man nicht nur in nahezu jedem Beruf, es gehört unmittelbar zur Persönlichkeitsbildung.

Singen ist, vereinfacht gesagt, ein verlängertes Sprechen. So gesehen kann jeder Sprechende auch singen. Yehudi Menuhin geht einen Schritt weiter und bezeichnet das Singen als die Muttersprache des Menschen. Unabhängig vom kulturellen Hintergrund und ohne die Voraussetzungen, die das Erlernen eines Instrumentes erfordert, ist über die Stimme auch für einen Anfänger vergleichsweise schnell ein qualitätsvolles Musizieren möglich.

Um eine wohlklingende, tragfähige und zugleich bewegliche Stimme zu entwickeln, müssen Körper, Seele und Geist in einen Balancezustand gebracht werden. Ein emotionales Übergewicht würde die gesunde Tonbildung beeinträchtigen, ein zu wenig an Emotion den Ton kalt erscheinen lassen. Dieser Zustand der Ausgeglichenheit ist für einen Sänger spürbar wohltuend.

Singen lernen heißt, positive Energien in sich zu mobilisieren. In einer Depression oder mit müdem Körper kann man nicht singen. Wenn man sich auf das Singen einlässt, überwindet man seine Müdigkeit oder depressive Stimmung und setzt lebensbejahende Energie ein, denn ohne diese ist eine freie Tonbildung nicht möglich.

Das drückt sich in der Gesangstechnik beispielsweise darin aus, dass, wie beim Lächeln, die Wangenmuskulatur aktiv ist. Auch das Zwerchfell braucht beim Singen die Spannkraft, die beim Lachen reflexhaft vorhanden ist. So ermöglicht das Zusammenspiel von Körper, Emotion und Bewusstsein erst die Einheit des Singens. Zu einer Einheit, dem sogenannten Einregister, verschmelzen auch Kopf- und Bruststimme. Man erhält eine Stimme ohne Brüche und Übergänge, wenn eine Stimmführung erlernt wird, die ohne Druck, aber mit beherzter Energie, bei sparsamem Lufteinsatz von oben, also vom Kopf her, geführt wird. Dies zu wissen ist wegweisend für die Gesunderhaltung der Stimme und Bedingung für die künstlerische Ausdrucksfähigkeit. Hat man diesen Weg gefunden, erscheint er einem als natürlich und richtig.

Die Schüler äußern dann, dass es sich jetzt leicht und einfach anfühlt. Gleichzeitig gewinnt der Ton an Lautstärke. Der Klang ist schön und unangestrengt und entwickelt sein ganz individuelles Timbre. In besonderen Momenten entsteht eine Gänsehaut, was auch die anwesenden Mitschüler spontan äußern.

Damit künstlerische Energie entstehen kann, ist bei aller Komplexität des Sujets eine unverkrampfte Form der Konzentration Voraussetzung. Diese kann nur in einem Umfeld des Vertrauens und positiver Begleitung entstehen. Wie kein anderes Instrument braucht die Entfaltung der Singstimme, neben der Sachkompetenz, für ihre Entwicklung Geborgenheit. Humor ist dabei ein guter Begleiter. Um jeden Menschen zu erreichen, empfiehlt es sich, für jeden Schüler einen persönlichen Weg zu suchen.

Die Sachkompetenz ist Grundbedingung zur Durchführung dieses Projektes in diesem Zeitrahmen. Der Gesangslehrer sollte über ein großes Spektrum an Erfahrungen mit Anfängern und Solisten in allen Altersstufen verfügen.

Wie erleben die Schüler das Projekt?

»Der Gesangsunterricht half mir nicht nur beim Singen, sondern er half mir für eine klare und tragende Sprache für Referate«.

»Es ist jetzt so eine Leichtigkeit, Gelassenheit und Lockerheit beim Singen. Das ging nicht nur mir so, sondern in der ganzen Klasse gab es riesige Fortschritte, was sich auch bei der Vorführung zeigte, wo viele so wunderschön gesungen haben. Ich denke, jeder kann singen lernen, wenn er übt. Das einzige, was uns unterscheidet, ist, dass manche mehr und manche weniger Übung brauchen.«

»Das Projekt hat mir dabei geholfen, meine Stimme neu zu finden, und ich habe jetzt erst wirklich gelernt, wie man seine Stimme richtig benutzt.«

Lehrer nehmen wahr, dass sich die Aufführenden, insbesondere die Jungs, sichtbar wohl in ihrem Körper fühlen. »Das Singen ist offensichtlich eine Hilfe, mit Freude zu sich und an die eigene Quelle zu kommen. Es entsteht eine größere Sicherheit in sich selbst. Der Singende kommt erlebbar in seiner Gegenwart an.« Die Schüler erscheinen durch die Aufführung in einem neuen Licht. Die Äußerung, dass es sich aufgrund einer berührenden Gesangsdarbietung gelohnt habe, einen Schüler zu halten, der für die Lehrer eine Herausforderung war, spricht für sich.

Zur Autorin: Annerose Krämer-Hübner ist langjährige Stimmbildnerin und Gesangslehrerin.

Literatur: Albert Mehrabian: Silent Messages, Wadsworth 1981 | Yehudi Menuhin: Zur Bedeutung des Singens, www.il-canto-del-mondo.de