Mit Herz und Seele. Schulkonferenzen damals und heute

Christof Wiechert

Diese Sätze sprach Rudolf Steiner zu einer kleinen Gruppe von Menschen am 20. August 1919 in Stuttgart. Am nächsten Tag begannen für diese Wenigen die Vorträge zur »Allgemeinen Menschenkunde«. Volle individuelle Verantwortung und Lehrerrepublik. Am Ende der ersten Konferenz am 8. September wurde diese Aussage ergänzt: »Konferenzen sind freie republikanische Unterredungen. Jeder ist darin ein Souverän.«

Worum geht es? – Darum, das Individualitätsprinzip (»die eigene volle Verantwortung«) in der Gemeinschaft zur Wirksamkeit zu bringen. Es ist – fast – die Quadratur des Kreises. Das Mitglied der Konferenz muss die Fähigkeit haben, im Chor der Urteilsbildung so mitzuschwingen, dass es sich im gemeinsamen Urteil wiederfindet. Das aber setzt einiges voraus. Zum Beispiel Selbsterkenntnis. Nicht eine solche, die sagt, so bin ich halt, sondern eine, die sagt, ich kann und will mich ändern. Nur Letzteres ist sozial, das heißt gemeinschaftsbildend.

Als der Eigenrat zu schwächeln begann

Hundert Waldorfjahre sind ins Land gegangen, und es geht noch immer um diese Frage: Wie lebt die Gemeinschaft in mir, wie lebe ich in der Gemeinschaft? Die Gründergenerationen haben ihre Schulen, wie oben beschrieben geführt, oft in beispielhafter Form. In Deutschland und den von Deutschland im Zweiten Weltkrieg okkupierten Ländern trat nach dem Krieg eine zweite Gründergeneration an, die ebenfalls die Schulen in diesem Sinne »verwaltet« hat. Das ging bis zum Anfang der 1970er Jahre. Dann setzte in der Schulbewegung ein enormes Wachstum ein. Formen wurden übernommen, die erst mit den Jahren verstanden und gelebt werden konnten.

Durch die Konferenzen entstand – wenn sie lebendig waren – Kraft der Orientierung: Man fand die Lösungen, die man für die Schulangelegenheiten brauchte. Steiner nannte das »den Eigenrat«. Dieser Eigenrat begann allerdings zu schwächeln. Rationale Überlegungen in Führungsfragen, kräftig nominalistisch verstanden, bewirkten, dass viele Schulen in den 1980er Jahren mit Bezug auf die Selbstverwaltung durch die Konferenz zu schlingern begannen. Man versuchte, durch die Aufteilung der Konferenz nach Fachbereichen entgegenzusteuern. Man versuchte es mit Konferenzen, in denen nur noch berichtet wurde, was in anderen Gremien besprochen worden war. Man versuchte es mit anderen Konferenzrhythmen, zum Beispiel nur noch einmal im Monat. Oder man versuchte es mit Delegationen. Man hat auch versucht, ganz ohne Konferenzen auszukommen und an ihrer Stelle Führungsgremien zu schaffen. Oder man bildete konferenzähnliche Zusammenkünfte außerhalb der Schule, in denen man »richtig inhaltlich arbeitet«, denn in der Schule war dafür angeblich keine Zeit.

Man hat es mit einem Heer von Beratern versucht, was immer solange gut ging, als sie da waren. Der Eigenrat aber schwieg. Man sah sich nicht im Stande, ihn zu befragen. Die neueste Entwicklung in der Waldorfwelt sind von Rektoren, Direktoren oder Schulleitern geführte Schulen. Man sagt, es bringe Beruhigung und Entspannung, endlich zu wissen, woran man sei. Endlich eine gut organisierte Schule (man kann ja immer noch Konferenzen abhalten).

Die Konferenz als Herzorgan

Bei verschiedensten Gelegenheiten sprach Steiner über die Bedeutung der Konferenz und gebrauchte dann zwei Metaphern: Die Konferenz sei »das Herz« oder »die Seele« der Schule. Betrachten wir das Herz. Das Herz bringt es tatsächlich fertig, zwei Blutarten, die sich nicht »vertragen«, zusammenarbeiten zu lassen. Durch diese Zusammenarbeit wird alles beseelt. Reiche Informationen kommen mit frischer Energie zusammen. Das Herz nimmt diesen Austausch wahr, es ist ein Wahrnehmungsorgan für seelische und geistige Vorgänge. (Das wusste schon der Evangelist Lukas, als er berichtete, wie der Besuch der Hirten nach Jesu Geburt auf Maria wirkte.) Das Herz nimmt aber nicht nur wahr, es urteilt auch, es nimmt das Hell und Dunkel der Gedanken wahr. Und es erinnert sich. So kann man von vier Qualitäten des Herzens sprechen: Wahrnehmen, Urteilen, Erinnern und Impulse bilden. Das Herz darf nicht krank werden, sonst krankt der ganze Organismus. Herzkranke Schulen sind ein Jammer, etwas, was man den Schülern nicht zumuten darf.

Es passt zur Seelenverfassung der Hundertjährigen, dass sie sich auf ihre Wurzeln besinnen. So kann man wahrnehmen, wie bei Lehrern in vielen Schulen weltweit das Bedürfnis wieder erwacht, sich gegenseitig regelmäßig zu sehen, sich wahrzunehmen, voneinander zu hören, miteinander zu sprechen. Als spüre man die Notwendigkeit eines gesunden Schullebens, diesen Rhythmus von Diastole und Systole, der darin besteht, zusammenzukommen und wieder auseinanderzugehen, und den Puls des Seelenlebens der Schule durch den Wochenrhythmus zu erleben und zu pflegen. Es scheint, als ob von der Basis her die Empfindung an Kraft gewinnt, dass wir uns gegenseitig brauchen, um den Herausforderungen unserer Zeit und Lebensstiles gewachsen zu sein – um nicht nur Waldorfschulen zu haben, sondern freie Waldorfschulen. Und wenn dieses Wieder-zusammen-Kommen in allem Ernst und aller Heiterkeit geschieht, wird wohl die Stimme des Eigenrates wieder gehört werden.

Zum Autor: Christof Wiechert war langjähriger Leiter der Pädagogischen Sektion am Goetheanum. Zuletzt ist sein Buch Lust aufs Lehrersein im Verlag am Goetheanum erschienen.

Literatur: R. Steiner: Konferenzen mit den Lehrern der Freien Waldorfschule in Stuttgart, Ansprache vom 20.8.1919, GA 300a, S. 62, S. 68, Dornach 1975; R. Steiner: Anthroposophische Leitsätze, Die Weltgedanken im Wirken Michaels und im Wirken Ahrimans, GA 26, S. 114 ff.; R. Steiner: Die pädagogische Praxis vom Gesichtspunkte der geisteswissenschaftlichen Menschenerkenntnis, Vortrag vom 22. April 1923, GA 306, Dornach 1989, S. 154 ff.