Mit Wolf und Giraffe auf Du und Du. Behinderte Kinder lernen, gewaltfrei zu kommunizieren

Monika Kiel-Hinrichsen

Es ist Dienstagmorgen, 8.30 Uhr, und die nächste Stunde gehört einem ganz besonderen »Fach«. Einmal in der Woche arbeite ich mit ihnen daran, wie sie besser mit Gewalt umgehen können und lernen, den anderen Mitschülern ihre Grenze zu zeigen. In zehn Einheiten sollen die Kinder mit unterschiedlichster Behinderung in ihrer Wahrnehmungsfähigkeit sensibilisiert und gestärkt werden. Obwohl sie bereits zwischen zehn und elf Jahre alt sind, lieben sie es immer noch, Geschichten erzählt zu bekommen: eine gute Voraussetzung, um ihnen die Grundelemente gewaltfreier Kommunikation bildhaft nahe zu bringen.

Meine Helfer, der Wolf als Symbol für gewaltvolle Sprache und gewaltvolles Handeln, und die Giraffe, die für die Herzenssprache steht, weil sie ein riesiges Herz hat, welches das Blut immer bis hoch zu ihrem langen Hals und Kopf pumpen muss, werden jedes Mal freudig erwartet. Zuerst werden aber die »Stimmungskarten« von einer Schülerin mit Down-Syndrom verteilt.

Jeder Schüler hat mit Hilfe einer Symbol-Karte (lachendes oder missmutiges Gesicht) die Möglichkeit zu sagen, wie es ihm heute geht, was ihm geschehen ist, ob es etwas zu besprechen oder gar zu bearbeiten gibt. Besonders Kinder ohne Sprache finden hierdurch eine Möglichkeit, sich auszudrücken. Was gesunde Kinder selbstverständlich aus­drücken können, ist für manch ein seelenpflegebedürftiges Kind eine enorme Herausforderung. Die Karte hilft ihm, mit wenigen Gesten und Worten etwas zu sagen, was sonst ungesagt bleiben würde.»Im Bus hat mich Frieder geärgert«, kommt es mühsam über die Lippen eines spastischen Jungen.

Bevor es nach dieser Runde an die Arbeit geht, erzähle ich eine »sinnige« Geschichte vom Wolf und der Giraffe und von den Versuchen des Wolfs, mehr Frieden in sein Rudel zu bringen, indem er von der Giraffe lernt, wie man genau beobachtet und seine Gefühle ausdrückt, ohne jemanden zu beleidigen oder anzugreifen.

Um das genaue Beobachten zu üben, laden wir verschiedene Tiere ein. »Stellt euch vor, eine Katze kommt herein und macht einen Buckel und stellt die Fellhaare auf. Geht ihr dann gerne auf sie zu, um sie zu streicheln? Oder ein Hund fletscht die Zähne und stellt seine Nackenhaare auf, gebt ihr ihm dann ein Leckerli? Ist der Hund wütend oder traurig? Wie sieht er aus, wenn er traurig oder einsam ist?« Im nächsten Schritt beobachten wir, wie die Schüler an ihren Klassenkameraden erkennen können, ob sie wütend, traurig oder verletzt sind. Hierbei können sie beschreiben, wie ein schwerstbehindertes Kind im Rollstuhl Ärger zum Ausdruck bringt.

Eine praktische Übung gehört unbedingt zu einer Stunde: Auf leisen Sohlen schleicht sich ein Kind an ein anderes heran, dessen Augen verbunden sind. Hierbei erleben die Schüler immer wieder ein deutliches Phänomen, denn in der Regel sagt das Kind mit den verbundenen Augen STOP, wenn sein Mitschüler eine Armlänge entfernt von ihm ist. Wir finden so eine unsichtbare Grenze heraus und schulen den Tast- und den Ich-Sinn, der uns eine Kunde über die Anwesenheit unseres Gegenübers gibt, gleichermaßen. Üben wir es in mehreren Stunden, sind die Schüler sensibilisiert für ihre eigene Grenze, aber auch die Grenze der anderen. Heute ist Leila, ein mehrfach behindertes Mädchen, das im Rollstuhl liegt, an der Reihe: Ich bitte sie, ein Zeichen zu geben, wenn sie das auf sie zuschleichende Kind spürt. Gespannt warten alle Kinder auf Leilas Reaktion. Kurz vor dem Erreichen der Fußstützen des Rollstuhls bewegen sich Leilas Füße zart. STOP heißt das für die herannahende Schülerin. Ich lege ein rotes Tau um den Rollstuhl und achtungsvoll schauen die Schüler auf den »Schutzkreis« von Leila. Diese wacht geradezu auf in ihrem Schutzraum. Sie beginnt mit den Armen zu erzählen und Laute von sich zu geben, so dass wir alle tief berührt sind. Für die anderen Kinder liegen auf dem Fußboden Reifen bereit, in welche sie sich hineinstellen, um dadurch auch »ihren Schutzraum« zu symbolisieren. Der erste Schritt für mehr Achtsamkeit untereinander ist getan.

Dann erzählen Max und Leo von ihrem Pausenkonflikt. Da Jan auch dabei war, setzen sie sich zu dritt in die Mitte des Kreises. Jeder erzählt, wie er die Situation erlebt hat. Meistens beginnt der Bericht mit »Du hast mich geschubst, Du bist blöd, immer ärgerst Du mich …, Nie darf ich …« Nun kommen die Wolfsohren zum Einsatz, denn der Wolf sucht die Schuld schnell beim anderen und spricht nicht gerne über sich, das haben die Kinder bereits gelernt. Mit den Wolfsohren auf dem Kopf sind sie motiviert, diese durch die Giraffenohren auszutauschen. Wie sage ich das gleiche, wenn ich mit »Ich« anfangen soll? »Ich bin sauer, weil Du an meiner Jacke gerissen hast. Warum machst Du das?« fragt Max den Leo. »Weil ich Dich doof finde.« So hat auch Leo die Wolfsohren auf dem Kopf. »Leo, die Giraffe spricht mit ihrem Herzen. Erzähl uns, wie es Dir geht, was stört Dich?« »Ich bin traurig, dass Max nicht mein Freund sein will.« »Was wünschst Du Dir von Max?« »Ich möchte auch so gerne mal Torwart sein.« »Aber das hat er nicht gesagt«, entgegnet Max.

Nein, oft können Kinder, aber auch Erwachsene, allein gar nicht so genau sagen, warum sie ärgerlich, verletzt oder traurig sind. Stattdessen greifen sie den anderen an – meist mit Worten, aber je hilfloser die kleinen und großen Menschen sind, desto schneller können sie es auch mit Fäusten tun. Deshalb üben wir in der Klasse Schritt für Schritt, wie wir Konflikte leichter erkennen können und was wir als Menschen brauchen, damit ein Konflikt kleiner wird. In der gewaltfreien Kommunikation nennen wir es: die Bedürfnisse von jedem heraus-finden. Max möchte sich auf dem Schulhof sicher fühlen. Er will nicht von Leo angegriffen und geärgert werden und bittet ihn, dass er das nächste Mal sagen soll, wenn er etwas möchte.

Am lebendigsten wird unsere Arbeit, wenn wir Rollenspiele machen, an denen der Klassenlehrer und ich uns beteiligen. Bewegend sind dabei Momente, in denen die soziale Kompetenz der Schüler auf einfache und ganz direkte Weise zum Ausdruck kommt: So spielte eine Schülerin aus der siebten Klasse die Mutter in einem Konflikt mit der Tochter, in dem es um wiederholtes Zuspätkommen geht. »Ich weiß, was Du brauchst: Wir gehen jetzt eine Uhr kaufen«, war die Lösung der Schülerin.

Ziel der Arbeit ist es, dass die Kinder ihren Gefühls- und Bedürfnishorizont erweitern, um sich differenzierter ausdrücken zu lernen. Je älter die Schüler sind, desto direkter können wir an dem Konflikt und an Konfliktlösungsmöglichkeiten arbeiten – wie in einer neunten Klasse, in der es immer wieder um verbale Gewalt und Ausgrenzung geht: Neben den beschriebenen Wahrnehmungsübungen erzähle ich von Schülern aus anderen Schulen, ihren Konflikten, den Gefühlen und Bedürfnissen dabei. Ganz leise wird es dann und plötzlich sagt ein Schüler, der sonst eher eine Protesthaltung dem Ganzen gegenüber eingenommen hat: »Das kenn’ ich auch!« Nun kann er von sich erzählen und lässt sogar die Frage zu: »Wie fühlst du dich dabei?« Ganz besonders warm wird die Atmosphäre, wenn wir gemeinsam herausfinden, was Patrick braucht, damit er sich nicht mehr verletzt und allein fühlt. »Unterstützung und Hilfe vom Lehrer« oder »auch mal eingeladen werden von anderen Mitschülern« oder »eine freundliche Ansprache« werfen die Schüler freudig ein.

Spannend wird es, wenn wir »Stühle oder Rollen tauschen«. Jetzt haben die Schüler die Aufgabe, sich in den anderen hineinzuversetzen. Wie fühlt es sich an, so groß und kräftig zu sein? Oder klein und zart und unsicher auf den Beinen? Hierdurch wächst die Kraft der Empathie und das stärkt das soziale Miteinander in der Klasse.

Die Erfahrung hat gezeigt, dass behinderte Kinder ungeahnte Potenziale in sich tragen, die, wenn sie genutzt werden, zu einer Bereicherung ihrer emotionalen und sozialen Kompetenz beitragen und ihr Selbstbewusstsein stärken. Bildhafte Geschichten, wie die vom Wolf und der Giraffe, lassen sich für die unterschiedlichsten Themen, zum Beispiel die Gefahren des sexuellen Missbrauchs oder die Verführung zu kleinen Delikten, methodisch einsetzen. Sie ermöglichen Kindern mit diesbezüglichen Erfahrungen, sich vorsichtig zu öffnen. Besonders die Erfahrung der eigenen Grenze, diese auch zeigen zu dürfen und zu können, kann ein Meilenstein für ihre Zukunft sein. 

Zur Autorin: Monika Kiel-Hinrichsen ist Erzieherin, Sozial- und Waldorfpädagogin und führt eine Praxis für Biographiearbeit, Ehe- und Erziehungsberatung, Mediation und Supervision, www.forum-zeitnah.de