Muße 4.0

Henning Kullak-Ublick

1950 gab es 515.000 PKW in Deutschland, 2017 waren es 46 Millionen. 1955 nahm die Lufthansa mit zwei Flugzeugen, die jeweils 44 Passagiere befördern konnten, ihren Flugbetrieb wieder auf, 2016 machte statistisch jeder zweite Erdenbürger mindestens eine Flugreise. Die letzte handbediente Ortsvermittlung beim Telefonieren in Deutschland wurde 1966 abgeschafft – heute haben 63 Prozent aller 10- bis 12-Jährigen und 93 Prozent der 13- bis 16-Jährigen ein Smartphone. Also: Wir haben zwar die technischen Mittel, um ein ungebundenes Leben zu führen, aber eben auch die eminent pädagogische Frage, wie unsere und die Seelen unserer Kinder da noch – oder besser: wieder – mithalten können.

In der föderal organsierten Bildungspolitik Deutschlands kann man von Zeit zu Zeit Studien über die infektiöse Verbreitung »dringend notwendiger Maßnahmen« treiben, die meistens irgendwie mit Landtagswahlen, der Bertelsmann-Stiftung, industriell geprägten Lobbygruppen und pädagogischer Ignoranz zusammenhängen – immer aber mit der Angst, einen Trend zu verpassen. Ein besonders geglücktes Anschauungsbeispiel dafür ist die Einführung des »Turbo-Abiturs«, das die Gymnasial-Zeit um ein Jahr verkürzte und inzwischen in den meisten Bundesländern wieder abgeschafft wurde oder wird, weil die Betroffenen, also die Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer und die Eltern den damit verbundenen Stress nicht bewältigen können. Ein weiteres Beispiel ist die in immer neuen Wellen propagierte Digitalisierung allen Lernens, die unter dem Druck einer multimilliardenschweren Industrie nach dem Motto vorangetrieben wird: »Wenn wir erstmal die Technik haben, wird uns schon einfallen, wofür man sie gebrauchen kann«. (Heimlicher Zusatz: »Dann ist sie eh schon wieder veraltet und wir können die nächste Generation verkaufen«.)

Stopp! Die Schule ist heute einer der wenigen verbliebenen öffentlichen Orte, an denen wir uns dem Hamsterrad einer auf maschinentaugliche Effizienz getrimmten Ökonomisierung des gesamten Lebens verweigern können. Mehr als auf alles andere kommt es hier darauf an, dass Erwachsene, genauso wie die Kinder und Jugendlichen, sich darin üben, genau zu beobachten, wahrnehmend zu fühlen, in lebendigen, aus anschauender Urteilskraft gewonnenen Begriffen zu denken, im Wiederholen Tiefe und Lebenssicherheit zu gewinnen und ihren Willen zum kreativen Mitgestalter einer Welt zu machen, in der wieder heilen kann, was sie jetzt kränkt.

Um Zusammenhänge sehen, fühlen, denken und schaffen zu können, brauchen unsere Kinder Muße. Diese zurückzuerobern ist vielleicht die radikalste pädagogische Revolution der Gegenwart. Auf in den Kampf!

Henning Kullak-Ublick, von 1984 – 2010 Klassenlehrer an der FWS Flensburg; Vorstand im Bund der Freien Waldorfschulen, den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners, der Internationalen Konferenz der Waldorfpädagogischen Bewegung sowie Koordinator von Waldorf100 und Autor des Buches »Jedes Kind ein Könner. Fragen und Antworten an die Waldorfpädagogik«.