In Bewegung

Mut zu Qualität!

Stefanie von Laue

Tiefe Zufriedenheit im Kollegium: Für die ausgeschriebene Stelle einer Lehrkraft Mathematik in der Oberstufe mit Prüfberechtigung haben sich fast zwanzig gut qualifizierte Kandidat:innen beworben. Hinzu kamen unzählige Anfragen von Eltern, die Waldorflehrer:in werden wollen. Ebenso erfreulich: Der Krankenstand im Kollegium ist auf einem historischen Tief. Alle arbeiten motiviert, regelmäßige Gespräche mit Mitarbeitenden schaffen Mut, Wertschätzung und Achtsamkeit. Zeit dafür ist vorhanden, denn die Selbstverwaltung wurde durch dynamische Selbstorganisation ersetzt. Dadurch hat das Kollegium wieder Zeit, sich der Menschenkunde und dem Lehrplan zu widmen. Das wirkt sich spürbar auf die Arbeit mit den Kindern im Unterricht aus – alles ergibt wieder einen Sinn. Eine Utopie? Nein. Sondern das Ergebnis einer Arbeitsgruppe zur Qualitätsinitiative des Bundes der Freien Waldorfschulen (BdFWS), an der Lehrer:innen und Eltern aus dem gesamten Bundesgebiet teilgenommen haben.

Was ist die Qualitätsinitiative des Bundes?

Der Wunsch nach Qualität an Waldorfschulen ist nicht neu. Seit über dreißig Jahren arbeiten Menschen aus den verschiedensten Bereichen der Waldorfbewegung daran, Wesensmerkmale der Waldorfpädagogik zu identifizieren und an den Waldorfeinrichtungen sichtbar zu machen. Doch nie war die Not an Waldorfschulen so groß wie heute. Generationenwechsel, veränderte gesellschaftliche Bedingungen, Wertewandel, Unbeständigkeit, Auswirkungen der Corona-Zeit und des Ukraine-Krieges stellen unsere Schulgemeinschaften vor große Herausforderungen. Wie können wir uns als Waldorfbewegung inmitten des Wandels für die Zukunft gut aufstellen? 

Eine Organisation kann nur zukunftsfähig sein, wenn sich jede/r Einzelne in ihr als Teil des Ganzen begreift und Verantwortung dafür übernimmt. Eine Schule kann sich nur entwickeln, wenn der/die Einzelne bereit ist, sich selbst zu reflektieren und an sich zu arbeiten. Das zeigt die »Theorie U« des Anthroposophen und Zukunftsberaters Otto C. Scharmer:

Die Kurve stellt den Weg vom äußeren Anlass zu möglichen Lösungen dar. Er führt über einen – oft schmerzhaften Prozess – durch den tiefsten Punkt der Not und des Erkennens. Der »Not-Wendepunkt« ist gleichzeitig auch der Punkt zu den eigenen inneren Quellen. Hier bietet sich die Möglichkeit, mit der gewonnenen Kraft neue Wege zu finden. Die Zukunft wird damit schöpferisch ergriffen.

Die Qualitätsinitiative des Bundes der Freien Waldorschulen möchte den Bewusstseinsprozess des Individuums auf den Schulorganismus übertragen: In jeder Schule gibt es Anlässe, die Reflektion ermöglichen. Es geht darum, herausfordernde Vorfälle wahrzunehmen und sich darüber in einem geschützten Rahmen auszutauschen. Durch das Wahrnehmen und Benennen von Unzulänglichkeiten und Konflikten kann eine Schulgemeinschaft zu ihren eigenen inneren Quellen gelangen und neue Kraft aus ihnen schöpfen. Damit wird Entwicklung möglich. Die neu gewonnenen Erfahrungen befähigen uns, vorhandene Qualitäten zu würdigen und gegebenenfalls mit Zuversicht Veränderung an unseren Schulen zu wagen. Schulgemeinschaften können so gestärkt aus Krisen hervorgehen.

»Der Erfolg einer Intervention ist abhängig von der inneren Verfassung des Handelnden.« Otto C. Scharmer, Zukunftsberater

Das »Interview mit sich selbst« 

Ausgehend vom Bundesvorstand und der Bundeskonferenz ist das »Interview mit sich selbst« seit Mai 2021 eine Einladung an jede Schulgemeinschaft zur Reflektion über ihr schulisches Handeln in einem geschützten Rahmen. Das Interview dient dazu, dass sich eine Schule im oben beschriebenen Sinn auf den Weg macht. Der Bundesvorstand hat hierfür fünf Qualitätsfelder erarbeitet, die in der folgenden Skizze im Fünfstern dargestellt sind.

Die fünf Qualitätsfelder:

1. Menschenkunde – Anthroposophie als Grundlage

Beispiele:

  • Allgemeine Menschenkunde, spirituelles Menschenbild
  • die inneren Quellen deutlich machen, z.B. auf Elternabenden oder in Konferenzen 
  • Abgleich mit dem Stand der Wissenschaften und der Lebenspraxis

2. Orientierung am Kind

Beispiele:

  • Das Kind in seiner Entwicklung begleiten 
  • Gesunderhaltende Ansätze berücksichtigen
  • Methodisch-didaktische Umsetzung der Lernthemen

3. Personalentwicklung

Beispiele:

  • Regelmäßige Personalentwicklungsgespräche
  • Fortlaufende, regelmäßige Fortbildung
  • Angemessene Gehaltsordnung und Altersvorsorge

4. Strukturen

Beispiele:

  • Sind alle Beteiligten eingebunden?
  • Transparente Schulorganisation
  • Eltern-Lehrer-Trägerschaft

5. Prozesse  

Beispiele:

  • Wie gut ist der Informationsaustausch zwischen den Gremien/Gruppen?
  • Wie werden Entscheidungen getroffen?
  • Gutes Konfliktmanagement

Praxis des Selbstinterviews

Eine am Interview interessierte Gruppe wählt aus dem Qualitäts-Fünfstern ein Feld aus, woran sie arbeiten will. Dann reflektiert sie anhand von sechs Fragen zum ausgewählten Thema. Die sechs Fragen lauten: 1. Warum ist dieser Bereich für Sie wichtig? 2. Welche Wirkung versprechen Sie sich davon? 3. Woran erkennen Sie die Wirkung? 4. Wie überprüfen Sie die Wirkung? 5. Mit welchen Methoden arbeiten Sie? 6. Wissen alle Beteiligten davon? Gut wäre es, je nach Thema möglichst viele Beteiligte der Schulgemeinschaft einzubeziehen. So können die Per­spektiven von Eltern, Kolleg:innen und Schüler:innen die Reflektion erweitern. Die Ergebnisse aus dem Interview können in einer geeigneten Darstellungsform niedergeschrieben werden. Die Projektgruppe hat für jede Schule eine interaktive Tabelle vorbereitet.

Die Angebote der Projektgruppe »Qualitätsinitiative des Bundes«

Jeder Schulorganismus ist individuell – und damit auch der Anfang und Umgang mit der Selbstreflektion. Deswegen hat die Projektgruppe mehrere Angebote entwickelt, mit denen sie Schulgemeinschaften in dem Prozess unterstützt. Sie begleitet die Schule auf ihren Wunsch hin gern persönlich.

Angebot 1: Informieren und Interesse wecken

Eine Schule hat von der Qualitätsinitiative des Bundes gehört. Sie möchte prüfen, ob sie die Qualitätsinitiative für sich durchführen möchte oder nicht. Ziel ist die Frage im Kollegium, ob das »Interview mit sich selbst« als hilfreich bei der weiteren Arbeit empfunden wird und zeitlich realisierbar erscheint. Nötig hierfür sind Vorgespräche, Besuch eines Projektmitgliedes in der Konferenz, Nachbereitung. 

Angebot 2: Stärkung aus dem Interview erleben und Kraft schöpfen

Eine Schule möchte das »Interview mit sich selbst« ausprobieren. Eventuell haben einige Kolleg:innen noch Bedenken, aber sie tolerieren den mehrheitlichen Wunsch im Kollegium, es zu versuchen. Ziel ist es, den Nutzen des Interviews erlebbar zu machen, Zuversicht zu schaffen, dass das Interview die Situation verbessern wird und mögliche eigene Widerstände zu spüren und zu überwinden. Mögliche Durchführung sind Vorgespräche, Workshop und Nachbereitung.

Angebot 3: Interview einführen und entwickeln

Eine Schule startet mit dem »Interview mit sich selbst«. Ziel ist es, eigene Qualitätsthemen zu entdecken, den Wunsch nach Veränderung zu unterstützen und prozessual zu begleiten sowie die Ergebnisse für den Alltag tauglich zu machen. Mögliche Durchführung sind Vorge­spräche, Workshop und Nachbereitung.

Angebot 4: Begleitung und Bestätigung

Die Ansprechpartner:innen der Schule führen den Prozess zum »Interview mit sich selbst« weitgehend eigenständig durch. Ab und zu wünschen sie sich eine Bestätigung ihres Handelns. Das Ziel ist, die Ansprechpartner:innen an der Schule zu stärken und Qualität umzusetzen und zu sichern. Empfohlene Durchführung sind Gespräche, Besuche und Evaluation. Die Angebote sind derzeit für
interessierte Schulen kostenfrei. 

Mehrere Schulen nutzen bereits als Testschulen das »Inter­view mit sich selbst«. So arbeitet z.B. die Schul­führungskonferenz der Waldorfschule Rosenheim in fünf Gruppen zu den verschiedenen Qualitätsfeldern. An der Waldorfschule München-Daglfing nahmen interessierte
Kolleg:innen die Idee des Interviews auf und arbeiten eigenständig mit dem Kollegium. Das Kollegium der Freien Waldorfschule Leipzig erlebte, warum es ihr nach dem Interview besser gehen würde, begleitet mit einer Steuerungsgruppe die thematische Arbeit. Ebenso hat sich die Freie Waldorfschule Hildesheim auf den Weg gemacht. Das gemeinsame Fazit ist: »Warum sollten wir das tun? Damit es uns anschließend besser geht.«

Verknüpfung mit anderen Qualitätsangeboten des BdFWs

Neben der Qualitätsinitiative des Bundes gibt es zwei weitere wichtige Qualitätsinstrumente. Etabliert ist bereits das Verfahren zur pädagogischen Qualitätsentwicklung, ein durch die SozialCert GmbH zertifiziertes Programm. Es zielt darauf ab, die pädagogische Qualität im Unterricht und den kollegialen Austausch zu verbessern. Das Verfahren stützt sich auf drei Säulen: Die erste ist eine regel­mäßige Intervisionsarbeit in der Konferenz in kleinen Arbeitsgruppen. Die zweite besteht aus innerkollegialen Hospitationen: Ein/e Kolleg:in bittet eine/n Kolleg:in, an ihrem/seinem Unterricht teilzunehmen und zwar unter dem Gesichtspunkt einer vorab gestellten, eigenen Frage.
Die dritte ist eine externe Hospitation durch geschulte Mentor:innen des Bundes. Ein völlig neues Bewusstsein für die eigenen Qualitäten bietet das Projekt »Zu.Ma –Zukunft.Machen« an. Ziel ist es, durch Stärkung des eigenen Bewusstseins Veränderungen im schulischen Umfeld zu ermöglichen. Hierzu bedient sich das Projekt vieler Bausteine und Methoden aus dem kommunikativen Werkzeugkasten und der Zukunftsforschung. Alle drei Qualitätsbestrebungen unterstützen sich gegenseitig und bringen ihre Erfahrungen ins gemeinsame Ziel ein.

Wie steht es mit der Verbindlichkeit?

Qualität heißt, das eigene Tun zu reflektieren und Verantwortung für sein Handeln zu übernehmen. Die Waldorfbewegung befindet sich in einem Spannungsfeld zwischen der Autonomie der einzelnen Schulen und der Verantwortung des Dachverbandes für die Bewegung als Gesamtheit. Welche Verbindlichkeit brauchen wir als Schulbewegung und als einzelne Schule, damit wir gemeinsam gestärkt in die Zukunft schreiten können? Verbindlichkeit entsteht auf zwei Wegen: Man kann sie verordnen und Nichtbeachtung mit Sanktionen belegen. Eine solche Vorgehensweise erzeugt meist Widerstand, der eigentliche Sinn der Verordnung tritt dagegen oft in den Hintergrund. Oder sie entsteht durch Einsicht. Jeder Teil einer Gesamtheit erkennt die Bedeutung und Sinnhaftigkeit einer Maßnahme. Ausschlaggebend ist Verständnis und inneres Mitschwingen. Wenn Schulen sich an demokratisch legitimierte gemeinsame Entscheidungen gebunden fühlen, stärkt das die Gemeinschaft; eine egoistische Haltung führt zur Schwächung aller.

Qualitätsstandards sollen nicht erdrücken, sondern unter­stützen, ermutigen und strukturieren. Das »Interview mit sich selbst« strebt Verbindlichkeit auf individuelle Weise an. Was soll geschehen, wenn Verbindlichkeit nicht eingehalten werden kann? Die Frage stellt sich, ob die Waldorfbewegung langfristig über eine Erkenntnis in die Sinnhaftigkeit von Mindest­anforderungen an Qualität verfügen wird. Es erscheint sinnvoll, in den nächsten Monaten einen zukunfts­fähigen Dialog über die Wesens­merkmale der Waldorfpädagogik und ihre Ein­haltung zu führen.

Ausblick

Qualität tritt zunehmend ins Bewusstsein der Waldorfschulen. Viele haben sich bereits zu den verschiedensten Themen mit den unterschiedlichsten Methoden auf den Weg in die Zukunft gemacht. Der Wunsch nach mehr Qualität war auch auf der letzten Mitgliederversammlung des Bundes am 25. März 2022 des Bundes wahrzunehmen: Eine überragende Mehrheit der Mitglieder sprach sich für eine Überarbeitung der »Grundsätze der Zusammenarbeit« zwischen den Schulen und dem Bund aus. Wichtige Änderungen waren das Bekenntnis zu einer verbindlichen Qualitätsarbeit und zu Gewaltprävention. Das hier beschriebene Projekt der Qualitätsinitiative wurde als förderwürdig anerkannt und in die zukünftige Haushaltsplanung eingebunden. 

Damit es uns hinterher besser geht: Verbinden wir uns miteinander, damit qualitativ gute und zukunftsfähige Ideen nicht nur Ergebnisse von Arbeitsgruppen sind, sondern auch an Schulen umgesetzt und nachhaltig gelebt werden können.

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