Mythos »Digitale Demenz«: Machen digitale Medien tatsächlich dumm, aggressiv und einsam?

In populärwissenschaftlichen Büchern wie »Digitale Demenz« von Manfred Spitzer wird über die schädlichen Auswirkungen von digitalen Medien berichtet und vor der Nutzung des Internets gewarnt. Medienpsychologen der Universität Koblenz-Landau zeigen, dass Spitzers Thesen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen wenig gemein haben. Die Bestandsaufnahme ist in der »Psychologischen Rundschau« erschienen.

Um populäre Behauptungen zu den schädlichen Auswirkungen von Internet und Co. möglichst objektiv mit dem aktuellen wissenschaftlichen Forschungsstand abzugleichen, suchten Markus Appel und Constanze Schreiner gezielt nach Meta-Analysen zum Thema digitale Medien. Meta-Analysen sind Studien, in denen vorliegende Befunde vieler Untersuchungen gemeinsam betrachtet werden, mit dem Ziel, einen durchschnittlichen Trend der wissenschaftlichen Ergebnisse zu ermitteln.

Laut Appel und Schreiner widersprechen die wissenschaftlichen Ergebnisse auf vielen Gebieten klar den Thesen zu den schädlichen Auswirkungen des Internets. Nach dem jetzigen Stand der Forschung führe vermehrte Internetnutzung im Mittel weder zu weniger sozialem Austausch, noch zu weniger gesellschaftlich-politischem Engagement. Auch sind intensive Internetnutzer nicht einsamer als Wenignutzer.

Eltern fehlinformiert und fehlgeleitet durch »Digitale Demenz«?

»Die alarmistischen Thesen von Spitzer und Co. haben wenig mit dem wissenschaftlichen Kenntnisstand zu tun«, so Appel, der eine Professur für Medienpsychologie innehat. Laut den Studienautoren verschleierten die nicht sachgemäßen Thesen zu den Auswirkungen von Internetnutzung den Blick für die Herausforderungen, die mit einer Verbreitung von Computer und Internet im Alltag verbunden sind. Appel befürchtet, dass nicht zuletzt Eltern und Lehrkräfte durch Bücher wie »Digitale Demenz« fehlinformiert und damit fehlgeleitet werden. »Wichtig erscheint mir, dass Erziehungspersonen die Mediennutzung von Kindern und Jugendlichen nicht von vorneherein verteufeln, denn dann wird es schwer, ein kompetenter Gesprächspartner in Sachen Internet zu sein«.

Neben den klaren Diskrepanzen mit dem wissenschaftlichen Kenntnisstand werden in der Studie auch Ergebnisse berichtet, in denen sich Spitzers Thesen und der wissenschaftliche Kenntnisstand überlappen. Diskutiert werden die Aspekte Wohlbefinden, Übergewicht und Aggressionen. Die Zusammenhänge fallen allerdings im Mittel eher schwach aus, so dass auch hier kein Anlass für eine alarmistische Haltung gegeben sei. Im Hinblick auf das menschliche Lernen widerspricht die Befundlage wiederum den Thesen zur »Digitalen Demenz«. Im Mittel ist der größte Wissenszuwachs zu verzeichnen, wenn Instruktionen Face-to-face-Anteile und Computer- bzw. und Internetanteile enthalten, auch die Wirkungsstudien zum Lernen mit Computerspielen zeigen im Durchschnitt positive Effekte.

Nicht berücksichtigt haben Appel und Schreiner Mythen über die keine bzw. keine meta-analytischen Erkenntnisse vorlagen. Dies betrifft beispielsweise die Vermutung, dass das routinemäßige Verwenden von Navigationssystemen zu einer schlechteren räumlichen Orientierung führt.

Ein Grund für die Popularität Medien-kritischer Publikationen sehen Appel und Schreiner in der Bezugnahme vieler Autoren auf neurowissenschaftliche Theorien und Befunde. Diese hätten allerdings in populärwissenschaftlichen Büchern häufig keinen direkten Bezug zu den Kerninhalten, wirkten aber dennoch gerade für Laien überzeugend.

Die Studie:

Appel, Markus & Schreiner, Constanze (2014). Digitale Demenz? Mythen und wissenschaftliche Befundlage zur Auswirkung von Internetnutzung. Psychologische Rundschau, 65.

Link zum Volltext als kostenfreier Preprint:

http://www.uni-koblenz-landau.de/landau/fb8/ikms/person/appel/2013_appel-schreiner_digitale-demenz.pdf