Mythos IQ

Michael Birnthaler

Bis weit in die Neuzeit hinein galt ein Mensch dann als »intelligent«, wenn er eine Fülle an geistvollen menschlichen Tugenden in sich vereinen konnte: Klugheit, Vernunft, Verstandesklarheit, aber auch Glaubensstärke, »wenn er das Haupt noch im Himmel hatte«, wie Rudolf Steiner formulierte. Die antiken und christlichen Kardinaltugenden, wie sie in den fünf klugen und fünf törichten Jungfrauen dargestellt wurden, galten Jahrtausende lang als ungeschriebenes Intelligenzgesetz. Dies änderte sich radikal mit dem Aufkommen der modernen Naturwissenschaft und Technik im 17. und 18. Jahrhundert. Der Mensch wurde nicht mehr primär als geistbegabtes Wesen angesehen, sondern lediglich als eine Art komplizierte Maschine aufgefasst. La Mettrie, der Hof-Philosoph des preußischen Königs Friedrich des Großen, verkündete, alles am Menschen sei maschinell, einschließlich der Seele und der Denkprozesse. Der Mensch sei ein perfektes Uhrwerk, in dem der Geist nur noch als gut geölte Rechenmaschine funktioniere. 

Cyborgs und Androiden

Die Idee des »Maschinenmenschen« und die Erfindung des Computers sind im 20. Jahrhundert das Fundament der Robotik (seit 1921) und der klassischen Künstliche-Intelligenz-Forschung (KI) geworden. Die KI-Forschung startete 1956 in Amerika mit hochgesteckten Zielen. Man war sicher, mit dem Computer endlich ein treffendes Modell des menschlichen Gehirns gefunden zu haben, und hoffte, mit ihm in kurzer Zeit die Intelligenz seines biologischen Vorbildes überflügeln zu können. Es ist ein tragischer Mythos unserer modernen Zeit, Roboter könnten eines Tages den Menschen an Intelligenz übertreffen und sogar Bewusstsein und Gefühle entwickeln. Filme, Computerspiele und Kultbücher sind heute übervölkert mit Cyborgs, Androiden, Aliens, Robocops … – computergesteuerte »Wesen«, die wegen ihrer bestechend kalten Intelligenz faszinieren. Mit Filmen wie »Terminator«, der Aus­­geburt eines zum Killer gewordenen hyper­intelligenten Maschinenmenschen, wird der moderne Aberglaube des Menschen futuristisch und martialisch bebildert.

Wie der IQ-Mythos die moderne Zivilisation prägt

Mit dem Heraufkommen des modernen Intelligenzbe­griffes und der Intelligenztests wurde das christlich-humanistische Menschenbild, das vom Menschen als einem ethisch orientierten Wesen ausging, ad acta gelegt. Die Intelligenz und der Intelligenzquotient (IQ) sind zu einem universellen Maßstab geworden und haben zahlreiche Lebensbereiche, vom Kindergarten bis in die Universität, ihren Gesetzen und Normen unterworfen. In dieser Logik wird heute die Verteilung von Lebenschancen und der Zugang zu den gesellschaftlichen Fleischtöpfen mehr oder weniger direkt über den Faktor der Intelligenz entschieden. In Amerika ist eine Karriere in der Wirtschaft oder Wissenschaft kaum mehr möglich, ohne einen Intelligenztest wie ein polizeiliches Führungszeugnis vorweisen zu können. Auch in Deutschland haben die Intelligenztests im letzten Jahr wieder für Furore gesorgt, als die Regierung forderte, Migranten müssten einen Intelligenztest mit positiven Werten vorlegen.

Wenig verwunderlich ist es, dass in einer Zeit, in der der »Mythos IQ« den Ton der Forschung angibt, Studien wie PISA auf eine frappierende Resonanz stoßen. Die erschütternde PISA-Gläubigkeit im gesamten Bildungssektor spiegelt wider, wie tief uns der Intelligenz-Mythos in den Knochen steckt.

In der Schule wird gesiebt

Der renommierte Psychologe Francis Galton, Neffe von Charles Darwin, war der erste, der sich an die mechanische Vermessung der mensch­lichen Intelligenz wagte. 1904 wurde eine Gesellschaft für Kinderpsychologie von der französischen Regierung damit beauftragt, einen Test zu erstellen, mit dem man geistig behinderte Kinder identifizieren könnte.

Die von Alfred Binet und Theodore Simon entwickelten Intelligenztests waren jedoch verblüffend mechanisch konzipiert – sie vermaßen nämlich den Kopfumfang oder leiteten aus der Reaktionsgeschwindigkeit der Kinder deren Intelligenz ab. Kurz darauf wurden die Intelligenztests von William Stern weiterentwickelt und 1912 wurde erstmals der Begriff »Intelligenzquotient« eingeführt. Auf dieser Grundlage war es endlich möglich, die Sonderschulen für weniger intelligente Kinder auszugliedern.

Heute sind längst sämtliche Bildungssysteme und Schul­­typen dem Diktat des Intelligenzquotienten unterworfen. Wer in der Schule Erfolg haben will, braucht gute Zensuren, sprich gute Fertigkeiten im Umgang mit kognitiven Prüfungen. Im Klartext: eine gute Intelligenz. Andere Begabungen spielen in den meisten Schulen eine untergeordnete Rolle. Zuhören, Aufschreiben, Auswendiglernen, Reproduzieren ist das übliche Lernschema. Wer dieses Schema nicht beherrscht, hat in der Schule kaum Chancen – und damit aber auch im späteren Leben. Dadurch ist die moderne Schule  vorrangig ein Verteiler von Lebenschancen auf der einseitigen Basis eines groß angelegten Intelligenztests geworden.

Die Intelligenz und das Böse

Zur gleichen Zeit, als die Idee der Roboter geboren wurde, als die mechanistischen Intelligenztests entwickelt wurden und kurz nach den Verwüstungen des Ersten Weltkriegs, hielt Rudolf Steiner die Vortragsreihe »Die Erziehungsfrage als soziale Frage«. Darin warnte er eindringlich vor der Gefahr der Mechanisierung der Intelligenz, der sozialen Kälte der Intelligenz und den damit verbundenen Auswüchsen des Intelligenz-Mythos: »Gerade noch gelingt es den Menschen, wenn sie ihre Intelligenz anstrengen und nicht ganz besonders wilde Instinkte tragen, nach dem Lichte des Guten etwas hinzuschauen. Aber diese menschliche Intelligenz wird immer mehr und mehr die Neigung bekommen, das Böse auszudenken und das Böse dem Menschen einzufügen im Moralischen, das Böse in der Erkenntnis, den Irrtum. … Es ist schließlich gar nicht umsonst, dass die Intelligenz dem gegenwärtigen Menschen so viel Stolz und Hochmut einflößen kann.« Wer die Entwicklung der modernen Zivilisation aufmerksam verfolgt, wird bemerken, dass Steiner die Warnungen zu Recht ausgesprochen hat. Wenige Jahre später hat die zunehmend »kalt und böse werdende Intelligenz« des Menschen das Dritte Reich, den Holocaust, eine rassistische Gesellschaftsordnung, später die Atombombe, die Gentechnik und die Killerspiele erfunden.

Die Entdeckung der »Emotionalen Intelligenz«

Seit den 1990er Jahren werden die Einseitigkeit des Intelligenzbegriffes und dessen verheerende kulturelle Wirkungen mehr und mehr durchschaut.

Zunächst konnte der vielfach zitierte Zusammenhang zwischen hohem Intelligenzquotienten und beruflichem Erfolg relativiert werden. Denn, so fand man schließlich heraus, es existiert dieser Zusammenhang in erster Linie für die einfachen und mechanisch strukturierten Berufe. Bei Berufen allerdings, die eine höhere Kreativität, Verantwortungs­fähigkeit oder gar Führungskompetenz erfordern, versagen die Intelligenzschemata. Forscher wie Howard Gardner (»Multiple Intelligenz«), Daniel Goleman (»Emotionale Intelligenz«) und Marshall/Zohar (»Spirituelle Intelligenz«) haben schließlich belegt, dass erfolgreiche und glückliche Menschen vor allem auf eine Fähigkeit zurückgreifen können: die Emotionale Intelligenz (»EQ«). Nach Auf­fassung einiger moderner Intelligenzforscher kann heute behauptet werden, dass die Emotionale Intelligenz der kognitiven Intelligenz weitaus überlegen ist.

Vor einigen Jahren wurde eine Studie veröffentlicht, bei der 62 der erfolgreichsten Unternehmen Amerikas (»Fortune 500«) gründlich untersucht wurden. Das Ergebnis war, dass nicht das perfekte Managementsystem oder die exzellente Marketingstrategie für den Erfolg ausschlaggebend waren, sondern die besonders hohe Emotionale Intelligenz des Führungsteams. Die traditionelle Schule dagegen scheint heute das einzige Reservat zu sein, in dem noch die kognitive Intelligenz der dominierende Faktor für den Erfolg ist.

Aber ob ein Schulabgänger ein tragendes soziales Netz aufbauen, ob er eine gelingende Beziehung führen wird und ob er sich im Beruf oder bei seinen Hobbys in einem wertschätzenden Team integriert fühlt – all dies ist primär von seiner Emotionalen Intelligenz abhängig. Der große Trost dabei ist: Die Emotionale Intelligenz ist in gewisser Hinsicht besser zu schulen als die kognitive Intelligenz!

Es sind vor allem die erlebnisreichen sozialen Unternehmungen, die als starke Erzieher der Emotionalen Intelligenz wirken – seien es Theaterprojekte, Zirkus, Pfadfinder, Ferien­lager, Klassenfahrten oder karitatives, soziales und politisches Engagement. Dann bleibt nur noch zu hoffen, dass auch die Lehrer unserer Kinder vor allem eines mitbringen: Emotionale Intelligenz.

Literatur:

Rudolf Steiner: Die Erziehungsfrage als soziale Frage. GA 296, 16.8.1919, Dornach 1997

Daniel Goleman: Emotionale Führung, München 2002

Howard Gardner: Abschied vom IQ: Die Rahmen-Theorie der vielfachen Intelligenzen, Stuttgart 2005

Daniel Goleman: EQ. Emotionale Intelligenz, München, 2001

Carl Liungman: Der Intelligenzkult. Eine Kritik des Intelligenzbegriffs und der IQ-Messung, Berlin 1982

Ian Marshall, Danah Zohar: IQ? EQ? SQ!: Spirituelle Intelligenz – das unentdeckte Potenzial, Bielefeld 2010

Michael Birnthaler: Erlebnispädagogik und Waldorfschulen, Stuttgart 2008