Nachhilfe – nutzlos oder hilfreich?

Gotthard Jost

Eltern geben hierzulande je nach Schätzung jährlich zwischen ein und zwei Milliarden Euro für Nachhilfestunden aus. Es stellt sich die Frage, warum, wo doch schon frühere Studien zu dem Ergebnis gelangten, dass Nachhilfe so gut wie keinen messbaren Erfolg bringt. Die Antworten darauf mögen ähnlich vielfältig sein, wie die Angebote zur außerschulischen Förderung. Aus zehn Jahren Erfahrung als Mathematik- und Biologielehrer in der Oberstufe und nahezu doppelt so langer Tätigkeit im Nachhilfebereich bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass Nachhilfe durchaus hilfreich sein kann – wenn die richtigen Faktoren zusammen kommen.

Mehr als nur Wiederholung

Was oft als reine Wiederholung des Schulstoffes verstanden wird, ist meiner Erfahrung nach in Wirklichkeit etwas viel Komplexeres. Ein Blick auf die Gründe, warum Eltern ihre Kinder zur Nachhilfe schicken, genügt, um das zu verdeutlichen. Ich habe erlebt, dass Eltern ihre Kinder zu mir geschickt haben, obwohl es – rein leistungsmäßig betrachtet – vielleicht gar nicht nötig gewesen wäre, nur weil entweder der große Bruder oder ein Bekannter schon bei mir waren. Oder auch, weil man nicht wollte, dass das eigene Kind zu den wenigen aus der Klasse gehört, die keine Nachhilfe haben (dürfen). Ich habe aber auch schon eine Mutter erlebt, die ihr völlig verunsichert wirkendes Kind in die Nachhilfeschule zerrte und vor ihm und allen Anwesenden klarstellte, dass sie als Familie umziehen müssten, sollte es die Gymnasialempfehlung nicht bekommen. Schließlich sei die Schmach, dies der Nachbarschaft gegenüber eingestehen zu müssen, nicht zu ertragen. Ich glaube auch, dass eigene Ängste oder gar schulische Traumata die Eltern veranlassen, ihre Kinder zur Nachhilfe zu schicken. Wie oft wurde ich mit dem Satz: »Wissen Sie, in Mathematik war ich auch immer schlecht …« begrüßt! Verständ­licherweise möchte man seine Kinder davor bewahren, die eigenen negativen Erfahrungen selbst zu machen. Dass in solchen Fällen die Vermittlung von Wissen für die nächste Stunde, Klassenarbeit oder Prüfung an Bedeutung verliert und es nur noch darum gehen kann, weiteren seelischen Schaden in Verbindung mit einem Fach oder dem Lernen allgemein von dem Kind fernzuhalten, versteht sich von selbst.

Was zeichnet gute Nachhilfe aus?

Um Missverständnissen vorzubeugen: Nicht alle meine Nachhilfestunden waren erfolgreich, geschweige denn gut. Es gab etliche, die in die Studie von Professor Grunder passen: Sie haben Geld gekostet und (wahrscheinlich) nichts gebracht. Es gab aber auch die anderen, die »Sternstunden«. Schülerinnen und Schüler, die verunsichert und auf einem schlechten Notenstand zu mir gekommen sind und nach wenigen Begegnungen einen gewaltigen Sprung gemacht haben, notenmäßig und in ihrem Selbstbewusstsein. Es gab auch etliche Nachhilfesituationen, die ich als durchaus gelungen bezeichnen würde, obwohl am Ergebnis gemessen die Erfolge bescheiden waren. Das waren die Stunden, in denen es mir gelungen ist, eine persönliche Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern aufzubauen, wo ich ihnen die Angst nehmen konnte, auch mal eine »ganz blöde« Frage zu stellen oder die individuell richtigen Erklärungen für komplizierte Probleme gefunden habe. Gerade Letzteres sehe ich als große Chance der Einzelnachhilfe.

Man darf nicht glauben, dass das bloße Wiederholen des Stoffes genügt, damit der Jugendliche ihn irgendwann beherrschen kann. Er möchte ihn verstehen und hofft, außerhalb des Klassenverbandes endlich zu seinem Recht zu kommen. Der Nachhilfelehrer sollte immer den Anspruch haben, den Unterricht so sensibel und phantasievoll zu gestalten, dass diese individuell passende Erklärung gefunden werden kann. Von dieser jahrelangen Anstrengung habe ich viel für meinen späteren Beruf als Lehrer so heterogener Klassen, wie wir sie in den Waldorfschulen glücklicherweise unterrichten dürfen, gelernt. Das seelische Aufpäppeln, das in den meisten Nachhilfesituationen in bestimmtem Maße nötig ist, darf nicht zu dem Fehler verleiten, dem Schüler die Arbeit abzunehmen, ihm die Anstrengung zu ersparen.

Werden in der Nachhilfe nur die Hausaufgaben gemacht und vielleicht noch ein, zwei Seiten im Schulbuch im Voraus geübt, damit sich in der nächsten Stunde ein gutes Gefühl einstellt, kann Nachhilfe sogar kontraproduktiv sein! Schnell wird der Schüler merken, dass er nun gar nichts mehr selber machen muss, dass er noch nicht einmal eine mehr oder weniger phantasievolle Entschuldigung für nicht erledigte Hausaufgaben suchen muss. Er kann sich erlauben im Unterricht nicht mehr aufzupassen, schließlich bekommt er den Stoff in der Nachhilfe noch mal erklärt. Gute Nachhilfe sollte immer die Eigenaktivität und damit die Willenskräfte des Schülers fördern, gerade in der medialen Vielfalt unserer Informationsgesellschaft, wo Wissen scheinbar nur ein paar Klicks entfernt ist. So wie die ersten Schritte eines kleinen Kindes ist auch das Lernen immer mit einer gehörigen Portion Anstrengung verbunden.

Viel Geld für nichts?

Es ist leider davon auszugehen, dass sich unser (staatliches) Schulsystem mit seiner Art der Leistungsmessung so schnell nicht verändert. Wenn weiterhin wenig Rücksicht auf den seelischen und geistigen Entwicklungsstand der Kinder genommen wird und man glaubt, auf ministerialer Ebene festgesetzte Bildungsstandards seien ein passender Gradmesser für das Können und die Reife unserer Kinder, wird die Nachfrage nach zusätzlicher Förderung hoch bleiben.

Da es die Waldorfschulen in Deutschland bisher nicht geschafft haben, eine den staatlichen Abschlüssen äquivalente Alternative zu installieren, geraten auch unsere Schüler früher oder später unter einen gewissen Leistungsdruck, der für manche sehr einschneidend wirkt, da er so plötzlich in die »heile Waldorf-Welt« hereinbricht. Die Frage, ob ihre Kinder Nachhilfe brauchen oder nicht, stellt sich über kurz oder lang daher auch den Waldorfeltern. In einer Zeit, in der die vielen guten Ratschläge in Internetforen, auf Blogs, im Fernsehen und in Erziehungsratgebern eine verunsichert wirkende Elternschaft zurücklassen, klingen die neuesten Studien zur Nachhilfe vermutlich kaum beruhigend. Wenn trotz musikalischer Früherziehung und naturwissenschaftlicher Experimente im Kindergarten das Kind in der Schule in manchen Fächern nicht mitkommt, muss man doch auf ein funktionierendes Zusatzförderprogramm zurückgreifen können! Und die von der Gesellschaft mittlerweile lieb gewonnene Nachhilfe soll das plötzlich doch nicht leisten?

Ich glaube schon! Nachhilfe kann tatsächlich eine Hilfe sein, aber nicht bedingungslos. Es ist wichtig, dass man sein Kind bei auftretenden Schwierigkeiten nicht aus purem Aktionismus und gutgläubig in das nächstbeste Nachhilfeinstitut schleppt, oder als Klassen- oder Fachlehrer verfrüht oder inflationär Nachhilfe empfiehlt. Die Ansprüche der Eltern, der Lehrer und des Schülers an sich selbst sollten mit Blick auf die momentane Lebenssituation des Betroffenen kritisch beleuchtet werden.

Die Frage des richtigen Zeitpunktes, des »passenden« Instituts oder Nachhilfelehrers, der Gruppengröße und -zusammensetzung, sollte – am besten gemeinsam mit dem unterrichtenden Fachlehrer – mit Bedacht beantwortet werden. Damit aber nicht genug: Die Nachhilfe sollte kritisch begleitet werden. Damit ist weniger das bange Warten auf die hoffentlich bessere nächste Note gemeint, als die Frage, ob das Kind sich in der Nachhilfe gut aufgehoben, verstanden und persönlich ernst genommen fühlt. Nur dann wird sich der Erfolg der Nachhilfe einstellen.

Zum Autor: Gotthard Jost unterrichtet Mathematik und Biologie in der Oberstufe der Freien Waldorfschule Schopfheim. Er ist Autor zahlreicher Lernhilfen großer Schulbuchverlage.