Närrisches Erbe

Mathias Maurer

Sebastian Scheuthles Beruf und Berufung ist nicht von seinem Vater Ekkehard Scheuthle zu trennen – dem Clown Frieder Nögge. Es ist gewiss ein riskantes Unternehmen, ein Original zu adaptieren und sich gleichzeitig von ihm zu emanzipieren, von dessen künstlerischem Erbe und von seinem Leben, das im Freitod endete. Mit zehn stand er zum ersten Mal mit dem Vater auf der Bühne. Sebastians Kindheit schien im schwäbischen Umraum, im ländlichen Idyll mit Waldorfschule und Christengemeinschaft wohl behütet.

Das Forum3-Theater in Stuttgart galt damals als das Mekka der Nögge-Anhänger. Es kam der Bruch, die Forum3-Theater-Ära des Vaters ging zu Ende, das anthroposophische Umfeld engte ihn künstlerisch ein.

Der Siebenjährige zog mit der Familie nach Hamburg, wo sein Vater auf der Reeperbahn im Schmidt-Theater auftrat und wenig später den Circus Manegen-Theater Salti Nögge gründete und durch Deutschland tourte. Nicht die kleine, die große Welt entsprach Sebastians jugendlicher Kragenweite, was schon sein Seemannsgang verriet, wohl ein Erbstück seines in frühen Jahren zur See fahrenden Vaters: Es zog ihn hinaus, Schule wurde Nebensache.

Das Unternehmen war aber nicht von Dauer. Und die Familie zerbrach. Sebastian absolvierte eine Ausbildung an der von seinem Vater gegründeten Schule für Improvisation und Schauspiel in Backnang. 2001, nach dem Tod seines Vaters, löste sich die Schule auf; Sebastian kehrte nach Hamburg zurück und machte seinen Abschluss am O33 im Schanzenviertel.

Sebastians Händedruck ist kräftig. Er verrät die Lehre zum Landschaftsgärtner, die nach der Schauspielausbildung folgte. Doch die Schauspielerei ließ ihn nicht los. Sebastian feilte an seiner Komik, entwickelte einen eigenen Chanson-Kabarett-Stil. Es kamen erste Auftritte mit dem Duo Frei & Willig. 2006 präsentierte er mit dem kongenialen Pianisten Frank Tischer den Nögge-Klassiker »Satierkreis – 12 Lieder, 12 Sternzeichen, 12 Frauen«, den sie landauf landab über zehn Jahre spielten, um schließlich auf dem »Schrägen Festival« bei den Ruhrfestspielen damit zu reüssieren. 2010 folgten »Dufte Zeiten«, wofür sie den Ulmer Kleinkunstpreis »Die goldene Weste« erhielten. 2011 entstand das dritte Erfolgsprogramm »es menschelt« mit Michael Ransburg und Kilian Gutberlet, 2012 sein erstes Solo-Stück »Stand up Krise«.

2013 war Sebastians berufliches und privates Leben an einem Tiefpunkt angekommen. »Meine Frau war weg, mein Musiker war weg«, erzählt er. »Die Temperamente wollte ich eigentlich nie spielen, doch ich zog sie als mein letztes Ass, denn ich hatte nichts mehr zu verlieren«. Dazu gehörte Mut: Denn überall kam ihm das Bild seines in der Szene bekannten Vaters entgegen: »Im Publikum saß eine regelrechte Nögge-Polizei. Generalverdacht: Das ist ja sowieso nur eine schlechte Kopie, die ich hier bieten konnte«.

Seit 2014 ist er mit einer Neuauflage der »4 Temperamente« unterwegs – »... nicht weil es ein Stück meines Vater ist«, betont Sebastian, »sondern weil der Inhalt einfach stimmt. Es wäre zu schade gewesen, das einfach in der Versenkung verschwinden zu lassen.« Man warnte ihn: »Du spinnst, das ist doch Wahnsinn.« Auch seine Mutter bremste: Er würde sich verausgaben, überfordern, vielleicht wissend, wie nah Manie und Depression im Schauspiel liegen. Doch diesen Dämpfer hat sich Sebastian zum Ansporn gemacht. Und es hat funktioniert. »Ich stehe sozusagen, ganz unabhängig von meinem Vater, im Dienst der Darstellung gültiger urmenschlicher Gemütslagen«.

Hat man den jungen Scheuthle auf der Bühne gesehen, nimmt man ihm ab, wenn er sagt: »Ich gebe mich auf, veräußere mich und gewinne mein Ich. Es ist wie Magie: Die Figuren verselbstständigen sich, werden autark. Es ist ein psychologischer Ritt, wenn zweihundert Zuschauer zum Beispiel cholerisch oder sanguinisch werden, es entsteht ein wahnsinniger Sog, eine starke Energie im Raum«. Das kann berauschen und der 37-Jährige wirkt wie ein Getriebener; doch er weiß um die selbsttherapeutische Wirkung der über sechshundert Aufführungen der »4 Temperamente«: »Ich denke, dass ich um einiges besonnener und geduldiger geworden bin.« Sebastian sucht einen konstruktiven Weg in der inneren Auseinandersetzung mit seinem Vater, will sich von ihm absetzen, sucht sein eigenes Profil, ohne ihn und sein Genie ignorieren zu müssen – eine harte Schule der Individuation. So nah ist er ihm, ähnlich und doch anders.

Auch an Waldorfschulen ist er viel unterwegs und inszeniert zum Beispiel »Das Haus der Temperamente« von Nestroy, arbeitet mit Achtklässlern, was ihm viel Freude macht. »Die Temperamente – man nennt das heute Persönlichkeits­­-typen – sind ein Schlüssel zu einem besseren Menschenverständnis«, sagt

Sebastian. »Sie gehören zur schulischen Grundbildung, weil sie universell sind.« Sebastian gibt Kurse in Unternehmen bietet Theaterworkshops an, arbeitet seit sieben Jahren im Circus Leopoldini der Waldorfschule Schwabing mit und stellt fest: »Die Menschen leiden heute darunter, dass sie ihren Charakter nicht ausleben können. Mit den Temperamenten lässt sich wunderbar improvisieren und allzu Menschliches ausdrücken. Mir geht es darum, dass die Teilnehmer anders rausgehen, als sie reingekommen sind, dass sie sich verwandeln. Manche fühlen sich durch das Stück so erkannt, dass sie mir das Tuch des Cholerikers während der Vorstellung aus der Hand reißen. Dann habe ich das Gefühl, dass ich bei den Temperamenten ganz angekommen bin. Ich bin nicht der Autor dieses Stücks, und doch habe mich ihm ganz verschrieben und gehe in einer gesunden Differenz zu meinem Vater daran«.

Wenn es gut läuft ist Sebastian jedes zweite Wochenende unterwegs. Die Presse feiert ihn als »Till Eulenspiegel unserer Zeit«.

Und was bringt die Zukunft? »Ich habe gerade ein tolles Projekt fertiggestellt. Ein CD-Doppel-Album vom Satierkreis. Das erste Mal, dass es Texte von meinem Vater auf einer CD gibt!« Und im März 2019 gibt es ein neues Stück, »Die Falschspieler«, im Forum-Theater Stuttgart. Die Temperamente werden natürlich weiter auf allen Bühnen zu sehen sein.

Der unruhige Schaffer, auf den die Formulierung »Ich ernähre mich durch Kraftvergeudung« von Joseph Beuys zuzutreffen scheint, wohnt heute im bayerischen Glonn und sein Sohn besucht die Waldorfschule in München Schwabing, das heißt morgens um 6 Uhr muss der zweifache Vater raus.

www.sebastian-scheuthle.de