Vom Kohlenmeiler zum Orbitalmodell

Ulrich Wunderlin

Der Chemieunterricht an Waldorfschulen geht von Alltagserfahrungen aus und von den bedeutendsten industriellen Entdeckungen. Der Einstieg in das Fach folgt der geschichtlichen chemischen Entwicklung. Sie wird in den Mittelpunkt des Unterrichts gerückt, Stoffkunde und Prozesskunde werden gleichrangig behandelt. Das chemische Unterrichtsexperiment – wie auch das Schülerexperiment – haben eine entscheidende Funktion für die Erkenntnisbildung, die stets bei den beobachtbaren Phänomenen ansetzt. Chemische Schlüsselprozesse bilden die Grundlage für ein Stoff- und Prozessverständnis. Dass der Ursprung chemischer Prozesse nicht in der anorganischen Welt, sondern in den lebendigen Organismen liegt, gehört zu den Grundgedanken, die die Anthroposophie zur Allgemeinbildung beitragen kann. Dieser Grundgedanke ist gerade heute in der Zeit ökologischer Katastrophen von herausragender Bedeutung. Die chemische Formelsprache wird aus Experimenten und chemischen Prozessen entwickelt. Sie wird – im Unterschied zur herkömmlichen Chemiedidaktik – erst spät eingeführt, nämlich dann, wenn ein fundierter Überblick der chemischen Prozesse aus dem Erleben, Nachvollziehen und schrittweisen gedanklichen Durchdringen vorhanden ist.

Am Anfang steht das Feuer (7. bis 9. Klasse)

Der erste chemische Schlüsselprozess ist das Feuer: der Weg über die in die Luft wirbelnden Abgase zu den Säuren und der Weg über die zurückbleibenden Aschen zu den Basen wird verfolgt, Neutralisation und Salzbildung schließen sich an. Über Hitze und Kohle – im Kohlenmeiler gewonnen – als neue chemische Werkzeuge findet man den Weg zu den metallischen Elementen, die hinter den Basen stehen. Über die verbrennbaren Metalle können die Nichtmetalle, die hinter den Säuren stehen, als Elemente gewonnen werden: Phosphor aus Knochenasche mit Hilfe von Magnesium, Wasserstoff aus Wasser mit Hilfe glühenden Eisens. Die Polarität von Kalk und Kiesel steht im dritten Teil im Zentrum und wird bis in die Bodenkunde verfolgt. Die Kalkasche (Calciumoxid) aus der Gesteinsverwitterung und der Kalk sind in der Lage, Kohlendioxid oder Schwefeldioxid zu binden, während der Kiesel mit den giftigen Schwer­metallsalzen (den Aschen) einerseits farbige Gläser, andererseits wesentliche Mineralien bildet. Hier wird das Denken in Kreisläufen angesprochen und es werden wichtige Grundgedanken der Ökologie aufgegriffen.

Die Stoffe, die den Körper der Pflanzen aufbauen, bilden den Inhalt der zweiten Epoche. Der Ausgangspunkt liegt in der Polarität der brennbaren, aufflammenden Fette und der nur glühenden Kohlenhydrate. Wir charakterisieren die Fette in ihren chemischen Prozessmöglichkeiten als nicht wassermischbare Substanzen, die aber durch Kochen mit starken Laugen zu wasserlöslichen Produkten umgewandelt werden können (Seifenbildung). Die Kohlenhydrate wie Stärke und Zellulose können dagegen durch Kochen mit Säuren zu den wassermischbaren Zuckern umgewandelt werden. Als ausgleichende Mitte der erwähnten Polarität werden die Eiweiße behandelt, die sauer und basisch zugleich wirken. In der dritten Epoche stehen die organischen Stoffe des Körpers und ihre Abbauprozesse im Mittelpunkt. So wie der Feuerprozess den Schlüssel für die mineralische Chemie darstellt, so sind die mikrobiellen Teilverdauungen der Schlüssel für die organischen Sekundärstoffe. Die Gärung des Zuckers führt zum Alkohol, dem »Feuerwasser«. Diese Substanz lässt sich in dreifach verschiedener Weise umwandeln. Entziehen wir ihm chemisch gebundenes Wasser, wird die feurige Eigenschaft gesteigert, der Äther steht dem Leben noch ferner als der Alkohol. Wird der Alkohol dagegen »belüftet« (Umsetzung mit Sauerstoff, Oxidation), erhalten wir die dem Leben näher stehende Essigsäure. Reagiert der Alkohol mit einer Säure, bilden sich in einer Aufbaureaktion Ester, die häufige Duftstoffe sind. Vom Abbau der Eiweiße kommt man zu den Aminosäuren und den biogenen Aminen. Diese spielen einerseits als Botenstoffe im Körper eine wichtige Rolle, andererseits sind sie Ausgangspunkt für die Synthese wichtiger Drogen (Alkaloide). In den ersten drei Chemieprojekten erarbeiten wir eine Übersicht der Stoffe aus dem Verfolgen chemischer Grundprozesse. Die Stoffe werden im Zusammenhang mit ihrer Bedeutung in der Natur und in den Organismen behandelt.

Die gedankliche Vertiefung und Durchdringung (10. bis 12. Klasse)

In der zehnten Klasse wird die mineralische Chemie wieder aufgegriffen. Nun geht es aber vor allem darum, wesens- und sachgemäße Begriffe für unterschiedliche chemische Prozesse und deren Ordnungsprinzipien zu finden. Lässt man Schwermetallsalze in einer Wasserglaslösung reagieren, entsteht durch ruckartiges Wachstum eine bizarre, farbige Unterwasserwelt. Die Osmose bei einfachsten im Süßwasser lebenden Einzellern dagegen führt nicht zur Zerstörung wie im anorganischen Experiment, sondern zu einem geordneten und vom Organismus beherrschten Wasserstrom. In Salzlösungen sind Basenstämme und Säurereste immer nur latent vorhanden. Sie zeigen sich nicht als eigene Stoffe. Um ihrer Natur näher zu kommen, experimentieren wir mit der Elektrolyse. Das führt uns zum Umgang mit chemischen Formeln, einfacher Stöchiometrie. Zum ersten Mal taucht der Begriff »Teilchen« auf.

In der elften Klasse werden die Inhalte der physiologischen Chemie gedanklich durchdrungen. Dabei erweisen sich die funktionellen Gruppen der klassischen organischen Chemie zur Klassifizierung als sehr geeignet, wenn ihre Prozessmöglichkeiten aus dem Lebendigen heraus gegriffen werden. Aus den chemischen Leitbegriffen heraus finden wir einen neuen Zugang zu diesen funktionellen Gruppen. Der Weg zu den Säuren führt über die Aldehyde und Ketone zu den Carbonsäuren, ein gesteigerter Säureweg findet sich bei den Sulfonsäuren.

Den Weg zu den Basen zeigen uns einerseits die Alkohole, die Amine, dann die Heterocyclen (aliphatische und aromatische Ringe mit dem gebundenen, reduzierten Stickstoff) und schließlich die Alkaloide (Coffein). In der zwölften Klasse folgt als Zusammenfassung eine Gesamtübersicht über die Chemie und deren Zusammenhang mit den geologischen und physiologischen Prozessen. Die Polaritäten der Elementfamilien im Periodensystem werden behandelt. Die Metallprozesse werden aufgegriffen und ihre Bedeutung in den Eiweißen und den reaktiven Zentren der Enzyme besprochen. Mineralische, pflanzliche, tierische und menschliche Chemie werden zusammengeführt und in ihrer Differenzierung ausgearbeitet. Wenn es gelingt, die Silber- und Goldprozesse an den Abschluss dieser Chemieepoche zu stellen, endet man mit einem Bild, das zum Erahnen einer neuen Prozesshaftigkeit führen kann. Der Prozess der Goldkolloidbildung kann zu einem Wahrbild für die Geburt des Menschen führen (»der Mensch betritt die Erde durch das Tor des Goldes«), die Silberspiegelbildung zu einem Wahrbild für den Todesmoment, in dem das Leben gespiegelt in Bildern erlebt wird (»der Mensch verlässt die Erde durch das Tor des Silbers«).

Die Welt der Teilchen

Inhaltlich schließt man in der zehnten Klasse mit der Frage nach der Ganzheit (dem System) und seinen Komponenten (den Teilchen) an. Dabei wird an allen betrachteten Beispielen (Daniell-Element als Grundlage der Batterie, Organismus oder ein Molekül) deutlich, dass die Ganzheit immer mehr ist, als die Summe der Teilchen. Es wird unmittelbar einsichtig, dass man nicht sagen kann, dass Schwefelsäure (H2SO4) aus zwei Wasserstoffatomen, einem Schwefelatom und vier Sauerstoffatomen »besteht«. Die Atome geben gerade ihre Identität als einzelne Teilchen auf, wenn sie eine chemische Bindung eingehen. So können erste Grundlagen des Atombaus bearbeitet werden. Die Modellebene wird einbezogen, um bestimmte Eigenschaften ableiten zu können, beispielsweise die Wertigkeit eines Elements in einer Verbindung.

Dabei ist aber wichtig, immer zu unterscheiden, ob man in der Beschreibung sich auf die Ebene des Stoffes bezieht, oder ob man die eigenschaftslose Welt der Teilchen – ein Wassermolekül hat keine Dichte, keinen Schmelz- und Siedepunkt – charakterisiert. Diese beiden Ebenen sind nicht einfach durch eine mathematische Operation zu verknüpfen, wie vielfach immer noch gedacht (einfach mit dem Faktor 6,023·1023 multiplizieren – das geht nur bei Gasen).

In einer Weiterführung (z.B. in einem Leistungskurs) ist es spannend, den Weg gedanklich nachzuvollziehen, der zum Atommodell von Niels Bohr (1913) führt. Er geht von den Beobachtungen des Wasserstoffspektrums und der einfachen mathematischen Berechnung der Spektrallinien durch Rydberg aus und versucht, diese physikalisch zu beschreiben. Dadurch muss er Annahmen treffen, die es nach der klassischen Mechanik und der Elektrodynamik eigentlich nicht geben kann. Dennoch trifft er sie und führt die Quantentheorie in die Beschreibung ein (stationäre Zustände der Elektronen im Atom). Durch das Setzen dieser Annahme ist sein Atommodell eigentlich kein Modell, sondern ein weiterführendes Forschungsprogramm. Schnell wird die Quantentheorie durch die Quantenmechanik abgelöst, was dann zur Entwicklung des Orbitalmodells (Heisenbergs Berechnung über Matrizen, Schrödingers Berechnung über die Wellenfunktion) führt.

Dieses Modell kann viele Erscheinungen deuten, die sonst nicht zu verstehen sind, aber der mathematische Ballast, der sich dahinter verbirgt, ist immens. Das ist die eine Seite. Die andere Seite zeigt aber, dass der naive Atomismus der Antike, der sich bei Dalton fortsetzt, nicht mehr zu halten ist. Vielmehr macht der quantentheoretische Ansatz deutlich, dass die materielle Realität ein Ganzes ist, das nicht aus einzelnen Teilen aufgebaut ist. Im Experiment teilen wir diese Ganzheit auf und beschreiben Einzelphänomene, die aber mit der Ganzheit wieder in Beziehung zu setzen sind. Gerade das ist für die Beschreibung der Teilchenebene von großer Bedeutung und führt weg von der naiven Vorstellung, die von einem Rastertunnelelektronenmikroskop visualisierten Kugeln seien jetzt endlich die sichtbar gewordenen Atome.

Um der Gefahr der zu starken Mathematisierung entgegenzuwirken, hat es sich als fruchtbar erwiesen, die Bearbeitung des Orbitalmodells mit einer Übersicht der Primär- und Sekundärstoffe der Lebewesen gemäß ihren physiologischen Bildeprozessen zu ergänzen. Dabei ergibt sich eine überraschend einfache Übersicht der wesentlichen Substanzen. Die Gliederungsprinzipien greifen Qualitäten der Stoffe auf, die sich auf ihre Bildung und ihre Funktion in den Organismen beziehen. So bilden die salzartigen, vom Organismus abgelagerten Substanzen und die sulfurischen Stoffe mit ihrem zukünftigen Reaktionspotenzial eine Polarität. Dazwischen stehen die in der Gegenwart unmittelbar wirkenden, ständig im Prozess sich befindlichen mercuriellen Stoffe. Stoffe können auf verschiedene Weise beschrieben werden. Wir erfassen den Stoff mit seinen physikalischen Konstanten und seinem Molekülbau (Formelschema). Wir verstehen die Bildeprozesse im Organismus, die zur Ablagerung dieser Substanz geführt haben. Stoffebene und Teilchenebene kommen zusammen, werden als zwei Seiten einer Ganzheit erfasst. Wir erfahren die Vergangenheit des Stoffes, wie er geworden ist. Wenn wir uns dann aus der Kenntnis der physiologischen Prozesse fragen, was wir mit diesem Stoff als erkennende und handelnde Menschen machen können, was sein Zukunftspotenzial ist, dann können wir eine Substanz erst in ihrer vollständigen Ganzheit erfassen. Können wir vorausdenken, was mit einer von uns vorgenommenen Umwandlung dieses Stoffes in der Zukunft werden kann, werden wir vielleicht – das ist die große Hoffnung – nicht mehr Substanzen in die Natur bringen, ohne zu wissen, was sich aus diesen alles entwickelt. Wir lernen, die zukünftigen Folgen unseres Handelns in der Gegenwart vorwegzunehmen.

Zum Autor: Dr. Ulrich Wunderlin ist Lehrer für Biologie und Chemie an der Atelierschule Zürich.

Literatur: U. Röseberg, Niels Bohr: Leben und Werk eines Atomphysikers. Berlin, New York 1992; U. Wunderlin: Lehrbuch der phänomenologischen Chemie, Band 1-3, edition waldorf, Stuttgart 2011-2013