Neue Kinderkrankheiten und ihre Ursachen

Martina Schmidt

In den letzten 15 Jahren hat sich die Häufigkeit kindlicher Fettleibigkeit verdoppelt mit einem jährlichen Anstieg um 0,3 Prozent. Mehr als zwei Stunden täglich am Bildschirm oder Fernseher verursacht siebenmal häufiger Übergewicht. Das renommierte »Journal of the American Medical Association« (JAMA) hat 2011 eine Meta-Studie veröffentlicht, die den ursächlichen Zusammenhang von Fernsehen und Zuckerkrankheit, Herz-Kreislauferkrankungen und Gesamt­sterblichkeit wissenschaftlich belegt.

• 2011 ergab eine Gesundheitsstudie der Deutschen Angestellten-Krankenkasse und der Leuphana Universität Lüneburg bei 5.840 Schülern, dass jeder dritte Schüler an depressiven Stimmungen leidet.

• Die 2011 veröffentlichte Längsschnittstudie AIDA (Adaptation in der Adoleszenz) zeigt, dass fast jeder fünfte Jugend­liche Angst davor hat, am nächsten Tag in die Schule zu gehen, und jeder Dritte macht sich abends im Bett oder auf dem Schulweg Sorgen wegen des Abschneidens in der Schule.

• Allergische Erkrankungen wie das Bronchial-Asthma haben in den letzten Jahrzehnten zugenommen und jedes sechste Kind leidet heute an Neurodermitis, während es 1960 nur jedes dreißigste war.

• Die Kaufmännische Krankenkasse (KKH) verzeichnete von 2004 bis 2007 – also in nur drei Jahren – eine Zunahme der Diagnose ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyper­aktivitäts-Syndrom) um 50 Prozent. Waren im Jahr 2004 noch 21 von 1.000 Jugendlichen betroffen, lag die Zahl 2007 bereits bei 33 ADHS-Diagnosen pro 1.000. Insgesamt sind in Deutschland eine halbe Million Kinder und Jugendliche betroffen. Jungen erkranken dreimal so häufig wie Mädchen.

Nicht kindgerechte Bedingungen der Lebenswelt führen zu einem Missverhältnis von Anforderungen und Leistungsvermögen der Kinder und dadurch zu Überforderung: Reizüberflutung, mangelnde Fürsorge und Zuneigung, zu wenig körperliche Bewegung und hohe Anpassungserwartungen in Schule und Familie fördern die Entstehung der neuen Kinderkrankheiten.

Erziehung kann krank oder gesund machen

Wir wünschen für unsere Kinder ein langes, gesundes, sinnvolles und erfolgreiches Leben. Doch was braucht ein Kind, um einen solchen Lebensweg einzuschlagen? Erziehung und Erziehungsbedingungen können krank machen, doch sie können auch gesundend wirken. Rudolf Steiner weist immer wieder darauf hin, dass die Erziehung eine heilende Wirkung auf das sich entwickelnde Kind haben und Gesundheit für das ganze Leben veranlagen kann. Wie kommen wir zu sicheren Urteilen, welche Erziehungsent­scheidungen Gesundheit, Lebensglück, Wohlbefinden und ein langes Leben fördern?

Antworten auf diese Fragen werden durch eine Langzeitstudie gegeben, die 1921 von Lewis Terman, einem Psychologen der Stanford University, begonnen wurde. Er wählte 1.500 intelligente Jungen und Mädchen aus, die um 1910 herum geboren waren. Er befragte ihre Eltern und Lehrer und beobachtete, wie sie erwachsen wurden, einen Beruf ergriffen und Familien gründeten. Er selbst starb 1956, doch das Projekt wurde von anderen fortgeführt. 1990 stießen Howard Friedman und Leslie Martin zu der Studie dazu und führten sie bis heute weiter. Vor wenigen Tagen erschien im Beltz-Verlag das Buch mit den Studienergebnissen: »Die Long-Life-Formel«. Beinahe alle Teilnehmer der Terman-Studie sind mittlerweile verstorben und haben ihre ganze Biographie der Forschung zur Verfügung gestellt.

Sie haben uns eine Reihe von Einsichten über langfristige Folgen von Erziehungsentscheidungen hinterlassen, über das Verständnis des Zusammenhangs von Gesundheit, Glück und einem langen Leben. Es gibt in Bezug auf Gesundheit zwei grundlegende Irrtümer:

1. Die Wichtigkeit der biologischen Erbanlagen wird überschätzt, der eigene Lebensweg zählt mehr.

2. Listen mit allgemeinen Gesundheitsempfehlungen wirken nicht präventiv. Es ist eine Verknüpfung von Persönlichkeit, Verhalten, sozialen Gruppen wie Familie, Peers und Arbeitsumfeld, die den individuellen Weg prägen und Gesundheit und Lebensdauer beeinflussen.

Die wichtigsten Eigenschaften für ein langes erfolgreiches Leben waren Gewissenhaftigkeit, Beständigkeit, Besonnenheit, Organisiertheit und Ehrlichkeit. Die Persönlichkeit ist nicht in Stein gemeißelt. Wenn Eigenschaften einem langen Leben nicht zuträglich sind, können wir uns durch Selbsterziehung bemühen, diejenigen zu entwickeln und zu erweitern, die dafür günstig sind. Die Teilnehmer, die ein hohes Alter erreichten, haben das getan.

Manche Teilnehmer, die mit geringen Disziplinwerten begannen, (d.h. die als Kinder impulsiv und ungestüm waren – heute würde man von ADHS sprechen) hatten ein langes und gesundes Leben. Das Niveau von Botenstoffen im Nervensystem (Neurotransmitter) kann sich im Lauf der Zeit verändern.

Auch das Schuleintrittsalter ließ eine Prognose für die Länge des Lebens zu. Die Kinder, die mit fünf Jahren in die erste Klasse kamen, hatten ein hohes Risiko, früh zu sterben. Diejenigen, die im Regelalter von sechs Jahren die Schule begannen, lebten länger. Die Teilnehmer, die sehr früh in die Schule gekommen waren, hatten in ihrem gesamten Leben mit Problemen zu kämpfen. Sie litten etwa unter mentalen Anpassungsschwierigkeiten oder Alkoholmissbrauch. Es ist kein Zufall, wer sich eine Grippe zuzog oder sich rasch davon erholte. Es gibt systematische individuelle Unterschiede in der Empfänglichkeit für Verletzungen und Krankheit. Die Ergebnisse der Terman-Studie zeigen, dass ein aktives Ergreifen des eigenen Lebens, Selbsterziehung und Autonomie Gesundheit veranlagen:

• Gewissenhaftigkeit im Umgang mit den Dingen, den Aufgaben und den Menschen.

• Zeit, die Aufgaben in Ruhe zu tun.

• Zeit, um die notwendige Reife für eine Aufgabe zu erlangen.

Diese Ideen kann man bereits in der frühen Kindheit verfolgen und Erziehungsentscheidungen daran orientieren:

• Den Kindern Zeit lassen in ihrer Entwicklung und für ihre Lernprozesse.

• Stärkung der Eigenaktivität der Kinder, Führung und Grenzen in der Kindheit, Pflege der Sinne und des Lebensrhythmus als Grundlage der Urteilsbildung und der Autonomieentwicklung im Jugendalter.

• Eine positive und anregende Lernatmosphäre schaffen, in der die Kinder eigene Projekte verfolgen und verwirklichen können, dies auch als Vorbeugung von Suchtverhalten bei Fernsehen und elektronischen Unterhaltungsmedien.

• Gelegenheit und Zeit für Spiel und Bewegung im Freien, sinnvolle Betätigung in der Natur.

• Medizinische und pädagogische Unterstützung bei Entwicklungshemmnissen.

Der Lehrplan der Waldorfpädagogik ist so aufgebaut, dass es nicht allein um die Vermittlung von Wissen und Lern­inhalten geht, sondern mit dem Unterrichtsstoff die kindliche Entwicklung und die Veranlagung von Gesundheit angeregt und unterstützt wird. Und das ist vor allem die Aufgabe der Lehrer. Die Schulärzte und Therapeuten an den Waldorfschulen helfen den Kindern, im Unterricht teilnehmen und teilhaben zu können.

Wenn die neuen Kinderkrankheiten bereits eingetreten sind, wird die Zusammenarbeit von Ärzten, Therapeuten, Eltern, Schule und Peers (Klassenkameraden) notwendig, um die Krankheiten zu behandeln und eine Veränderung der Lebenssituation und des Lebensstils herbeizuführen.