Was ist Musik wirklich? Denn die brauchen unsere Kinder und wir! Sie ist unfassbar, nicht beschreibbar und lebt in einem Zwischenraum, von dem nur zu erfassen ist, was sie nicht ist. Dieser ist die Mitte des Menschen, das Ich! Und Musik ist das, was man nicht hört. Beim Musikgenuss vergesse ich diese Entstehung, doch der Komponist weiß: Inneres Hören schöpft Neues, es bringt Struktur in etwas, was vorher chaotisch, zufällig und ungeformt war. So entsteht Musik, auch aus Lärm (Autobahn, Maschinenhalle), und der Hörer wird vom Erleidenden zum Schöpfer dessen, was er wahrnimmt. Das innere Hören ist schöpferisch und gleichzeitig Hingabe an das Erhörte. Darin träumen wir, halten das Klingende für Musik und bemerken das selbst erzeugte Geistig-Musikalische nicht. Mit dieser reinen Ich-Tätigkeit (»den Willen in das Denken tragen«) stehen wir noch ganz am Anfang.
Wir stecken musikalisch noch in der Pubertät: Nachdem das Unhörbare sich bis Mozart ganz im Hörbaren verborgen hat, versuchen wir noch weiter in den äußeren Klang und das Geschichtenerzählen zu gehen. So kennen wir als Musik nur das, was sie nicht ist. Die Moderne ist Suche nach dem verlorenen Geistigen, aber nie bequem, sondern immer extrem. Sie findet das geistige Kreuz aus Lärm – Stille; Form – Kraft (Power) und vermittelt nur, wenn sie in den Mainstream rutscht.
Die Inhalte des Musikunterrichts sind neu menschenkundlich zu überdenken, damit junge Menschen den Raum finden, sich selbst zu entwickeln. Komponieren und Improvisieren kann nicht früh genug beginnen. Vertrauen in den Zukunftsmenschen, liebevolles Interesse, Zuhören und Bereitschaft, durchs Chaos zu gehen, reichen dafür. Das zu ertragen und zu lieben, verändert die klassische Lehrerrolle entscheidend! Spiele (bewegtes Klassenzimmer, Bewegungsspiele, soziale Spiele, Klangspiele oder rhythmische Körperübungen) schaffen eine schöpferische Atmosphäre, sie können den Weg ebnen.
Individueller ist die Improvisation in der Art des Freien Spiels (J. Knierim). Wichtig hierfür sind Instrumente, auf denen die Kinder und Jugendlichen etwas können: Flöten, Leiern, klassische und exotische Instrumente, Gongs, Becken, Stäbe, Zimbeln, Luren, Schrott. Die Auswahl sollte sich an menschenkundlichen Gesichtspunkten orientieren, an Kopf, Rumpf und Gliedmaßen, und wegen der Gefahr mitgebrachter Muster kein gängiges Schlagwerk enthalten. Nach chaotischen Ausprobierphasen finden sich die Regeln von selbst: freie Instrumentenwahl; Beginn und Schluss in absoluter Stille, Rückblick nach kurzer Pause. Belohnung sind Momente großer Schönheit, wunderbare Musik und über sich hinauswachsende Spieler und Hörer. Dies Vertrauen in die ordnende und entwickelnde Kraft des Hörens wollen die Kinder und Jugendlichen wirklich! Im Fortgang kennt Phantasie keine Grenzen: Soli, Tutti, Trio, größere Stücke, Klanggruppen, melodische Entwicklungen, Improvisationen in Kulturepochenskalen können erübt und zu »Stücken« kombiniert werden. Tonsysteme, Intervalle, Lärm, Stille, Klangqualitäten bilden als Hörräume das erweiterte Kreuz der Extreme; sie ermöglichen es uns, die eigene In- und Umwelt dem Wesen nach zu begreifen und uns, darin zu orientieren. Gut für das Renommee der Improvisation ist ein fester Platz im Unterricht.
Doch Klassen entwickeln sich, und man muss immer wieder kämpfen und Pausen machen. Dann kann Musiktheorie einen Gegenpol bilden und durch Kreativ-Aufgaben an die Komposition auch eigener Stücke heranführen. Das gibt schwachen Schülern neue Einstiegsmöglichkeiten und fordert die starken angemessen.
Eigenes Spielen und Singen des Komponierten beugt Wildwuchs vor.
Häufige Vorwürfe sind: Räume öffnen kannst du nur durch Improvisation mit Geräusch- und Klanginstrumenten! Du willst Kreativität anregen, machst aber immer dasselbe! Klar, doch wie ist es mit den Heeren von flötenden, singenden Klassen auf Monatsfeiern? Viele individuelle Wege sind möglich, und ich hoffe, dass jede Schule ihren eigenen kreativen Stil und Klangcharakter findet.
Wer erlebt hat, wie sich die Aufmerksamkeit der Schüler verwandelt, wenn Feiern nicht mit traditioneller Musik gerahmt werden, sondern durch Musik, die Schüler oder Lehrer für diesen Moment entwickelt haben, wird dies nicht mehr missen wollen und möglicherweise den Impuls fassen, wieder mehr zu feiern.
So beendet Musik ihr Mauerblümchendasein, befruchtet das Schulleben, weckt Liebe zur intensiven Stille, Aufmerksamkeit für alles Hörbare, Freude für Veränderung und bildet Raum dafür, dass die Kinder sich und uns unterrichten!
Zum Autor: Knut Johannes Rennert ist freier Musiker und Instrumentenbauer, war 16 Jahre Waldorf-Musiklehrer in Gladbeck und Bremen-Nord. Stark gekürzte Fassung. Der ganze Aufsatz ist beim Autor erhältlich.