Neues von der AD(H)S-Front
Kurz vor seinem Tod bekannte der US-Psychiater Leon Eisenberg, einer der »Erfinder« des Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndroms, es handle sich hierbei um ein Paradebeispiel für eine fabrizierte Erkrankung, er bedaure seinen Irrtum tief, denn die eigentlichen (meist psychosozialen) Gründe der Symptomatik blieben unberücksichtigt, wenn man von einem angeborenen neurochemischen Ungleichgewicht ausginge und Methylphenidat verschreibe.
Eisenberg hat, anderslautenden Gerüchten zum Trotz, nicht ausgeschlossen, dass ein minimaler Anteil der betroffenen Kinder tatsächlich unter einer primären Hirnstoffwechselstörung leiden könnte.
Sein Kollege Richard Saul hält das ebenfalls für möglich, behauptet jedoch, sogar diese wenigen Kinder litten nicht unter ADHS, sondern unter einer per definitionem anderen Störung, die er NDI (Neurochemical Distractability/Impulsivity) nennt. Ansonsten liegen nach Saul immer andere als primär neurologische Ursachen vor, wenn der AD(H)S-Stempel gezückt wird.
Sein soeben bei Klett-Cotta auf Deutsch erschienenes Buch Die ADHS-Lüge / Eine Fehldiagnose und ihre Folgen dürfte Furore machen.
Er zählt insgesamt 26 Beschwerdebilder auf, die fälschlicher- und unnötigerweise unter ADHS subsumiert und entsprechend fehlbehandelt werden. Ich vermisse bei Saul einige wichtige Gesichtspunkte (psychosoziale Faktoren, Schulstress, Stress überhaupt, das Naturdefizit u.a.), habe aber auch von ihm dazugelernt. Man sollte sein Buch parallel zu der ebenfalls brandneuen, im Pattloch-Verlag erschienenen Streitschrift Burnout Kids / Wie das Prinzip Leistung unsere Kinder überfordert des Hamburger Kinder- und Jugendpsychiaters Michael Schulte-Markwort lesen, obwohl es nicht explizit von ADHS handelt, implizit aber schon. Der Autor thematisiert auch den Schuldruck und fordert dringlich ein Umdenken.
Für meinen Geschmack nimmt er die Behandlung mit Psychopharmaka, zum Beispiel bei stressbedingten Depressionen, zu leicht. Ist es nicht in den allermeisten Fällen absurd, zu wissen, dass Stress die Ursache ist, und dann trotzdem Pillen zu verschreiben?
Darüber würde ich gern mit ihm sprechen. Zuletzt sei auf ein hervorragendes Buch hingewiesen, dessen etwas reißerischer Titel falsche Erwartungen wecken könnte. Es ist aber rundum seriös, wird eingangs von angesehenen Fachleuten gelobt und erhielt den British Medical Association’s Annual Book Award der Kategorie Basis of Medizin: Peter C. Gotzsche, Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität / Wie die Pharma-Industrie das Gesundheitswesen korrumpiert (riva 2015). Man lernt viel über die Machenschaften der Pharma-Konzerne und ihnen zuarbeitender Wissenschaftler und über gefälschte und unterschlagene Studien.
Selbstredend ist auch ausführlich von ADHS die Rede: als einem Lehrbeispiel für unseriöses bis illegales Vorgehen.
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