Nicht einförmig, sondern vielschichtig

Helmut Eller

Die Bedeutung der Dreigliederungsidee Rudolf Steiners für den Klassenlehrer

Ich durfte während meiner vierzigjährigen Klassenlehrerzeit viermal erleben, wie interessant es sein kann, die Eltern phänomenologisch anhand der Entwicklung unserer drei Seelenkräfte »Wollen – Fühlen – Denken« in die »Dreigliederungsidee« einzuführen und so eine gemeinsame Arbeitsgrundlage zu schaffen. Durchschreitet doch jedes Kind Entwicklungsphasen, die wir viel besser verstehen können, wenn wir sie mit Hilfe dieser Idee betrachten.1 (siehe Zeichnung 1)

Gleich nach der Geburt können wir drei Fähigkeiten in drei Regionen des Leibes beobachten

  • Durch unser Haupt können wir die Welt aufnehmen und tun es zunächst am auffälligsten durch Einsaugen der Nahrung, aber auch durch Aufnahme der Sinneseindrücke (Pfeile nach innen).
  • Im Rumpf, unserer körperlichen Mitte, beginnen wir unser irdisches Leben mit dem Atmen, das in beide Richtungen verläuft (Ein- und Ausatmen – Pfeile in beide Richtungen).
  • Mit unseren Gliedmaßen wirken wir in die Umgebung hinein, zunächst mit dem Strampeln (Pfeile nach außen). Dies ist ein erster Dreischritt, der leicht nachzuvollziehen ist.

Beobachten wir weitere Dreiheiten im ersten Lebensjahr:

  • Voller Eigenaktivität will sich das Kind aufrichten. Es versucht nach einigen Wochen den Kopf zu heben und erlernt zugleich das Blicken.
  • In einem zweiten Schritt lernt es das Sitzen und mit den Händen das Ergreifen von Gegenständen, die es erblickt. Beide Fähigkeiten lernt es zu koordinieren.
  • Schließlich ergreift es die Beine und kann dann aufrecht stehen und ohne Hilfe frei herumgehen.

Das Kind ergreift zunächst den Kopf, dann den Rumpf, schließlich die Beine, die zu (beweglichen) Säulen werden, richtet sich auf und geht. Welch ein Willensakt!

Die folgenden zwei Jahre lassen sich als weitere Stufen eines Dreischritts auffassen, der als Aufwärtsbewegung von den Beinen zum Kopf beschrieben werden kann:

  • Im zweiten Lebensjahr verwandelt sich die Beweglichkeit der Gliedmaßen im Brustraum zu einer seelischen Beweglichkeit, zur Fähigkeit des Sprechens und des differenzierten Fühlens.
  • Im dritten Jahr metamorphosiert sich diese innere Bewegung im Haupt in eine geistige Fähigkeit: das Denken.

Gehen, Sprechen, Denken sind drei Seelenfähigkeiten, die wir über Nachahmen der uns umgebenden Menschen im ersten Lebensalter durch eigene Aktivität erwerben.

Sie sind der Ausdruck unserer drei Seelenkräfte Wollen – Fühlen und Denken: ein Urmotiv.

Bisher waren es Dreischritte, die wir den drei Körperregionen Haupt, Rumpf und Gliedmaßen zugeordnet haben, aber noch nicht unter dem Gesichtspunkt der Dreigliederung: Diese besagt, dass in einem Organismus sich in jedem seiner Teile das Ganze widerspiegelt. Das bedeutet: Man kann im Kopf des Menschen nicht nur das Prinzip des Hauptes entdecken, sondern auch das Prinzip der Mitte und der Gliedmaßen. Ober- und Unterkiefer beispielsweise sind metamorphosierte Gliedmaßen. Interessanterweise hat jedes Kleinkind so viele Zähne im Mund wie wir Fußzehen und Finger haben. Am Fuß spiegeln die Zehen das Prinzip der Gliedmaßen, die Ferse das des Kopfes und das auf- und abschwingende Fußgewölbe dazwischen die
rhythmische Mitte. Das Prinzip des Kopfes nennen wir »Sinnes-Nerven-System«, jenes der Mitte »Rhythmisches System« und jenes der Gliedmaßen »Stoffwechsel-Gliedmaßen-System«. Schritt für Schritt wird man sich in diese Betrachtungsweise einarbeiten und dabei staunend bemerken, dass der Mensch nicht nur in seinem Leib, sondern auch im Seelischen und Geistigen ein dreigliedriges Wesen ist.2 Die Kenntnis der drei Seelenkräfte: Wollen – Fühlen – Denken – , die wir zunächst als die erworbenen Seelenfähigkeiten Gehen – Sprechen – Denken kennen lernten, ist von größter Bedeutung für die weitere Entwicklung des Kindes.

Man kann auch die ersten sieben Jahre unter dem Aspekt dieses Dreischritts betrachten, wobei jede Phase ungefähr ein Drittel dieser Zeit dauert.

Dasselbe lässt sich auch im zweiten und dritten Jahrsiebt beobachten. Jede dieser Phasen beginnt mit dem Wollen. Die zweite Phase steht immer im Zusammenhang mit dem Fühlen und die dritte mit dem Denken.

 

»Wille ist die Kraft des Wirkens im Tun«, charakterisierte Ernst-Michael Kranich diese nicht leicht zu verstehende Fähigkeit des Menschen. Das Kind lebt im Tun, lernt durch sein Tun, in dem die Willenskräfte wirken. Sein Tun wird begleitet von Gefühlen, sein Herz ist dabei, und das denkende Verstehen ist der dritte Schritt. Pestalozzis »Kopf-Herz-Hand-Pädagogik« drückt den gleichen Dreischritt aus und Piaget kam auf empirischem Weg zum gleichen Ergebnis.

Es ist von größter Bedeutung, dass wir den Kindern die Möglichkeit geben, viel mit den Gliedmaßen zu tun, die Geschicklichkeit der Hände zu üben und den Willen auf diese Weise zu stärken! Dass die Kinder in der Waldorfschule im ersten Schuljahr stricken, wirkt sich auf die Fähigkeit des Denkens aus.

Zu diesen grundlegenden Aspekten gehören auch Anregungen, wie:

  • Wenn wir das Kind etwas bewusst wiederholen, also dieselbe Sache mehrere Male ausführen lassen, stärken wir seine Willenskräfte.
  • Wenn wir das Kind unbewusst üben lassen, wirken wir auf sein Fühlen. Was wir nur einmal tun, wirkt lediglich auf unser Vorstellungsleben (Kopf).3
  • Bei allem künstlerischen Tun (Malen, Musizieren, usw.) wirken wir ganz besonders auf den Willen, sind aber zugleich mit unserem Fühlen (Herz) sowie Denken und Beobachten (Kopf) beteiligt. Daher enthält der Waldorf-Lehrplan so viele Künste.
  • Wenn wir das Kind lieben, wirken wir auf seinen Willen; wenn wir viel über das Kind nachdenken, wirken wir auf seine Verstandeskräfte.

Für den Klassenlehrer kommen zu all diesen grundlegenden Gesichtspunkten eine ganze Reihe von methodischen Hinweisen hinzu, die man viel besser versteht, wenn man mit der Dreigliederungsidee lebendig umgeht. Greifen wir einige heraus.

Im sogenannten »Ergänzungskurs«4 regte Rudolf Steiner an,

  • in jedem Unterricht auf einen gesunden Wechsel zwischen betrachtender Tätigkeit und Selbsttätigkeit zu achten. Das bedeutet, dass wir nach einer längeren Erzählung die Kinder etwas mit den Händen tun oder sie etwas rezitieren, singen lassen. Und das im rhythmischen Wechsel. Der Unterricht soll atmen.
  • Wenn wir in einer Geografie-Epoche die Kinder in die Weite geführt haben, sollte die nächste Epoche sie mehr nach innen führen, zum Beispiel im Deutschunterricht.
  • Bei der Stundenplanung ist darauf zu achten, dass nach einem Fach, das die Selbsttätigkeit der Kinder anregt, ein Fach folgt, das die betrachtende Tätigkeit erfordert.

Man wird bemerkt haben, dass die Selbsttätigkeit die Willensseite, die Gliedmaßen anspricht und die betrachtende Tätigkeit den Kopf. Für den Deutschunterricht, in welchem wir Klassenlehrer ja die ganze Grammatik mit den Kindern zu erarbeiten haben, gibt es schon seit Jahren ein schlichtes kleines Büchlein mit dem Titel »Grammatik«5. Beim Durcharbeiten kommt man aus dem Staunen nicht heraus: Heinz Zimmermann zeigt, dass in unserer Sprache jedes einzelne Kapitel auf dem Prinzip der Dreigliederung aufbaut. Es ist faszinierend zu lesen, gut zu verstehen und auch für die Fremdsprachenlehrer eine Fundgrube.

Eine kleine Kostprobe: Die drei Wortarten Hauptwort (Nomen), Eigenschaftswort (Adjektiv) und Tätigkeitswort (Verb) haben eine innere Beziehung zu den drei Seelenkräften: Das Hauptwort zum Denken, das Adjektiv zum Fühlen, das Verb zum Wollen.

Übt man im dritten Schuljahr diese Wortarten mit den Kindern, wollen diese

  • beim Nennen von Verben die entsprechenden Tätigkeiten sofort ausführen (z.B. »hüpfen«)
  • beim Aufzählen von Adjektiven das Gegenteil nennen (z. B. »hoch – tief«);
  • beim Nennen von Nomen bleibt es ganz ruhig (»Tafel«, »Tür«).

Einige Epochen in der Mittelstufe kann der Klassenlehrer viel gezielter vorbereiten und unterrichten, wenn er darin die Gesichtspunkte der Dreigliederung entdeckt.

Im 7. Schuljahr unterrichten wir die »Ernährungslehre«, betrachten u.a. die Pflanzenwelt unter dem Gesichtspunkt der Dreigliederung und finden, dass eine Beziehung besteht zwischen

  • der Wurzel und unserem Kopf, genauer gesagt, dem »Sinnes-Nerven-System«,
  • Stängel und Blatt und unserem »Rhythmischen System«,
  • Blüte sowie Frucht und unserem »Stoffwechsel-Gliedmaßen-System«.

Die Kinder lernen verstehen, dass jede Pflanze ihre typische Bildung hat und dort ihre charakteristische Wirkung am stärksten entfaltet – die Möhre in der Wurzel, die Brennnessel im Blatt, die Rose in der Blüte – bis hin zu den Menschen nährenden und heilenden Kräften.

Beim Besprechen der Verdauung können die Kinder gut nachvollziehen, dass sie beim Kauen im Mund beginnt, im Magen fortgesetzt und im Unterleib in den Gedärmen zu Ende geführt wird: ein Dreischritt! Im Mund erleben wir die Verdauung bewusst, im Magen nur noch träumend, und was in den Gedärmen geschieht, verschlafen wir.
Es sei erwähnt, dass in der Tierkunde der fünften und eventuell sechsten Klasse die Dreigliederung eine ganz große Rolle spielt. Wolfgang Schad ist es schon vor Jahren gelungen, zu zeigen, wie die drei Gruppen von Säugetieren mit dem dreigliedrigen Menschen zusammenhängen:

  • die Nagetiere mit unserem Nerven-Sinnes-System,
  • die Raubtiere, Robben und Wale mit unserem Rhythmischen System,
  • die Huftiere mit unserem Stoffwechsel-Gliedmaßen-System.

Wenn wir im sechsten Schuljahr am Ende einer Geografie-Epoche auf die Gesteinswelt der Erde blicken, ist es für uns Klassenlehrer wichtig, zu wissen, dass auch das Urgestein, der Granit, dreigegliedert ist. Ein Spruch kann helfen, sich die drei Substanzen besser zu merken: »Feldspat, Quarz und Glimmer, die vergess’ ich nimmer.Quarz ist licht, Glimmer ist schwarz (Finsternis) und der Feldspat farbig.«

Jetzt könnten wir mit einer Betrachtung der Farbenlehre und des Malunterrichts fortsetzen, bleiben aber beim Epochenunterricht und stellen fest, dass wir auch in
der Chemie der siebten Klasse Zusammenhänge mit der Dreigliederung finden, z.B. beim Thema Säure – Lauge – Salz.

Wenn die Schüler im achten Schuljahr in der Anatomie-Epoche unser Knochengerüst kennenlernen und dabei mit dem schwarzen Stift oder auch Kohle einzelne Knochen zeichnen, werden sie die Dreigliederung an unserem Skelett deutlich sehen lernen und aus eigener Anschauung bestätigt finden!

Und nicht zu vergessen: Die »Soziale Dreigliederung« Rudolf Steiners sollte im achten Schuljahr im Geschichtsunterricht behandelt werden.

Dieser aphoristische Überblick mag genügen, um zu erkennen, dass die Beschäftigung mit der Dreigliederung für den Klassenlehrer von besonderer Bedeutung ist. Hat man erst einmal einen Anfang gefunden, wird man immer wieder neue Gesichtspunkte entdecken und nie an ein Ende kommen, sondern ein stets Lernender bleiben. Die Schüler brauchen den lernenden Menschen, um sich an ihm selbst erziehen zu können.

Anmerkungen:

1 H. Eller: Entwicklungsstufen des werdenden Menschen. Stuttgart 2021

2 L. Vogel: Der dreigliedrige Mensch. Morphologische Grundlagen einer allgemeinen Menschenkunde, Dornach 2005

3 R. Steiner: GA 293, 4. Vortrag

4 R. Steiner: GA 302, 1. Vortrag

5 H. Zimmermann: Grammatik. Spiel von Bewegung und Form, Dornach 1997

Zum Autor: Helmut Eller war 40 Jahre Klassenlehrer an Hamburger Waldorfschulen, hatte 25 Jahre lang einen Lehrauftrag für Waldorfpädagogik an der Hamburger Uni, ist seitdem in der Waldorflehrer-Ausbildung tätig und hält Vorträge und Kurse.