Nimmst Du mich wahr? Der »Parzival«: ein Buch der Liebe

Andre Bartoniczek

Das Urteil der Schüler fällt unmissverständlich aus, und endgültig fassungslos sind alle, wenn Gawan dann auch noch trotz nicht endender weiterer Demütigungen unbeirrt um diese Dame wirbt. Warum tut sich Gawan das an? Er ist doch sonst so besonnen und klar, warum setzt er sich nicht aufs Pferd und reitet einfach davon? Spätestens an dieser Stelle ereignet sich immer wieder jener berührende Moment, an dem sich das Gespräch plötzlich wendet, die Schüler ihre ersten Reaktionen hinter sich lassen und sich mit beeindruckender Sicherheit bestimmten Fragen zuwenden: Kann es sein, dass Gawan etwas an Orgeluse bemerkt, was sie verbirgt? Nimmt er etwas an ihr wahr, was niemand sehen darf, obwohl es vielleicht etwas Wunderbares und Großartiges ist? Ich habe noch keinen Unterricht erlebt, in dem die Schüler nicht sehr schnell und klar erkannt haben: Es muss einen Grund geben, dass Orgeluse so handelt.

Ist es nicht so, dass man manchmal in den wichtigsten Momenten den geliebten Menschen provozieren muss, um ihn zu prüfen, ob er wirklich mich meint oder meine schöne, reiche oder mächtige Außenseite? So eine Frau wie Orgeluse wird von unzähligen Männern umworben – wer interessiert sich aber wirklich für ihr eigentliches Wesen?

Die Schüler formulieren hier Fragen, die sich letztlich ans Leben selbst, insbesondere auch an unsere gegenwärtige Erwachsenenwelt richten. Sind Orgeluses Stacheln nicht dieselben, die junge Menschen so effektiv ausfahren, weil sie wissen wollen, ob da – egal, ob bei Eltern oder Lehrern – ein Interesse an ihrer innersten Person ist oder ob es doch nur um die Bestätigung bestehender Erwartungen an Freundlichkeit, Fleiß und Korrektheit geht?

Haben wir zu Hause und in den Klassenräumen nicht deshalb diese anstrengenden zwischenmenschlichen Scharmützel, weil wir in Wirklichkeit die Sehnsucht haben, von dem anderen bemerkt und gesehen zu werden? Wir selbst stehen auf dem Prüfstand: Unsere Zivilisation ist darauf trainiert, sich an Äußerlichkeiten festzuhalten – an Status, Geld, Konsum genauso wie an der Sicherheit empirischen Denkens. Für das Verständnis von Liebe heißt das: Duftstoffe bewirken zum Zwecke der Arterhaltung biochemische Reaktionen, die uns in den Zustand der Verliebtheit ver­setzen; der Sexualtrieb sichert die Reproduktion; Liebe steht ansonsten als käufliches Produkt zur Verfügung.

Durchschaust du die Blendung?

Der Deutschunterricht ist jetzt schon lange nicht mehr die Vermittlung prüfungsrelevanter Lerninhalte, sondern ein Bewegen von Lebensfragen. Das ist sonst ja auch gar nicht leicht: Welcher Schüler würde all diese Dinge, die er ein Stück weit sicherlich auch schon einmal durchgemacht hat, im Klassenraum erzählen? Nein, das behält man doch lieber für sich und durchleidet es stattdessen im eigenen Inneren. Im Unterricht nun taucht man zusammen ein in die Bilder des »Parzival«, stößt auf solche Stellen wie die zitierte und muss überhaupt nicht über sich selbst reden. Niemand muss sein eigenes Inneres offenlegen, das noch so neu und gefährdet ist. Wie schwierig und zum Teil sogar gefährlich ist es aber, nun gar nicht über die eigenen Erlebnisse und Zustände zu sprechen: Man wird die eigenen Nöte nicht los, ist mit vielen Dingen völlig unbekannt und belastet sich immer mehr, statt sich durch entgegenkommendes oder eigenes Verständnis befreien zu können. In der Begegnung mit Literatur blickt man plötzlich wie in einen Spiegel, entdeckt sich selbst, findet genau die Fragen, Schmerzen, Hoffnungen und Gedanken ausgesprochen, die einen selbst zutiefst beschäftigen. Man darf nicht unterschätzen, wie klärend, kräftigend und nachhaltig dies auf das Seelenleben des jungen Menschen wirkt, auch wenn es völlig folgenlos zu bleiben scheint.

Der Leser möge einmal bei sich selber beobachten, was er empfindet und wie das in ihm wirkt, wenn er erfährt, wie es mit Orgeluse nun weitergeht. Gawan riskiert sein Leben, um eine äußerst gefährliche Aufgabe zu bestehen: Er soll einen Kranz erobern, der auf der anderen Seite einer tiefen Schlucht hängt. Er springt und stürzt mit seinem Pferd fast in den Abgrund. Als Orgeluse das sieht, bricht sie in Tränen aus. Gawan überlebt, und nun wirft sich Orgeluse weinend vor ihm nieder, bittet ihn um Verzeihung und offenbart ihre wirklichen Empfindungen.

Der Vorhang weicht und man blickt hinein in die ungeheure Wahrheit dieses Menschen – mit seiner Tragödie, aber auch mit dem innigsten Geständnis der Liebe. Orgeluses Attacken waren die Folge eines unsäglich leidvollen Ereignisses: Ihr Mann wurde getötet, und als sich später ausgerechnet der in Liebe entflammte Gralskönig Anfortas ihrer annahm und angesichts ihrer Schönheit für einen Moment seine eigentliche Aufgabe, den Gral zu schützen, vergaß, wurde der König von dem Speer des Gralsgegners Klingsor entmannt.

Sie war der Gegenstand eines egoistisch gefärbten Begehrens, und sie weiß nun um dessen Folgen. Während Anfortas sein künftiges Martyrium als Qualen leidender Gralskönig antritt, geht sie den Weg jenes entsetzlichen Zurückweisens von Menschen, die ihr eigentlich lieb sind, mit der bangen, aber nie aussprechbaren Frage: Durchschaust du die Blendung – nimmst du mich wahr? Die Erzählung selber bestätigt die Sicherheit der intimen Antworten der Schüler auf das Rätsel Orgeluses und Gawans, und indem nun zugleich diese Motive sich mit dem gesamten Inhalt der Parzival-Handlung, dem Drama um die Gralszukunft und die Vernichtungsfeldzüge Klingsors verbinden, kann sich innerlich ein tiefes Wahrheitserlebnis einstellen.

Wer verbirgt sich im »tumben Tor«?

Überall fordert uns der »Parzival« auf, uns selber umzuwandeln: uns nicht täuschen zu lassen von der Außenseite der Dinge, sondern hinter ihr deren Wirklichkeit, das Geheimnis des Lebens zu entdecken. Im »tumben tor« erkennen wir später den Gralskönig, die entsetzlich strenge Kundry hat in Wirklichkeit zutiefst mit Parzival mitgelitten, in der Klingsorburg lebten unsichtbar und unerlöst auch Hunderte von Männern. Es ist faszinierend, wie Wolfram von Eschenbach schon vor 800 Jahren uns die Welt hinter dem Vorhang aufschließt und bekannt macht mit uns selbst. Sein Mittel sind die Bilder. Unendlich viele Erzählungen schildern die Situationen des menschlichen Lebens so, wie sie sich »real« abspielen, das heißt, sie bilden ihre äußer­liche Erscheinung naturalistisch ab. Im »Parzival« hingegen ist vorweggenommen, was Paul Klee Anfang des 20. Jahrhunderts in seinen berühmten Worten formuliert: »Kunst bildet nicht ab, sondern macht sichtbar.« Er verwendet Bilder, die mit Frau und Mann, Haus und Burg, Fluss und Wald, Vogel und Pferd völlig diesseitige, uns bestens bekannte Dinge zeigen, durch ihre rätselhafte Verbindung aber wie durchlässig machen für das Wesentliche, die verborgenen Zusammenhänge, die ihnen zugrunde liegen.

Die drei Blutstropfen im Schnee, der Fischer mit der Pfauenfederkrone auf dem See, der schwarz und weiß »gescheckte« Feirefiz sind scheinbar von unserer Lebensrealität weit entfernte Märchenmotive, und zugleich rufen sie in uns Schichten auf, die unter Umständen viel wesentlicher sind, als unsere alltäglichen »Tatsachen«. Es ist, wie wenn wir träumen: Wir erleben Bilder, die so gar nicht stimmen, sondern merkwürdig »unrealistisch« komponiert sind, und dennoch spüren wir, dass gerade diese Bilder oft sehr bedeutsame, existenziell wichtige Botschaften, Signale, Mitteilungen sind. Sie wirken oft wahrer als die Inhalte unserer gewöhnlichen Vorstellungen.

So auch die dichterischen Bilder Wolframs: Ein junger Mann, der unter seiner Ritterrüstung noch den Leinensack seiner Mutter, das »Narrenkleid« trägt, ist historisch undenkbar. Um wie viel tiefgründiger als historische »Richtigkeit« ist aber dieses Bild: Während sich die Außenseite des Jungen schon ritterlich darstellt und Erwachsensein demonstriert, ist im Inneren noch das Kind, das in seine Rolle erst hineinwachsen muss – eine geradezu zeitlose Situation, für die man unendlich viele aktuelle Beispiele jugendlichen »Doppelwesens« zwischen Coolness und Unsicherheit anführen könnte, die in diesen elementaren Bildern aber viel grundsätzlicher aufgespürt wird.

Wolframs Motive könnte man in ihrer charakteristischen, zeitlosen Formulierung der Wahrheiten des menschlichen Lebens »Urbilder« nennen. Dies hat unmittelbar etwas mit dem Wesen der Liebe zu tun. Im »tumben Tor« dessen wirkliche Zukunft, seine große Individualität zu sehen; Orgeluse nicht nach ihrer Außenseite zu beurteilen; in der Außenwelt nicht nur Holz und Stein, sondern die ihnen zugrunde liegenden geistigen Kräfte zu erleben – das alles ist ein Ausdruck eines liebevollen Verhältnisses zum anderen Menschen und zur Natur. Indem die Schüler die Bilder des »Parzival« in sich aufnehmen und sich mit ihnen auseinandersetzen, dringen sie für einen kurzen und seltenen Moment unter die Oberfläche der Dinge und werden ihrer geistigen Herkunft, der Wirklichkeit ihres innersten Seelenlebens gewahr. Liebe ist jetzt nicht mehr Biochemie und Trieb, sondern sie wird in ihrer eigentlichen Würde und Tiefe wahrgenommen. Mit Parzival gelangen wir zum »Hauptmann der wahren Erziehung« Gurnemanz, der ihm als wichtigste Lehre auf den Weg gibt: »Mann und Weib sind eines wie die Sonne, die heute schien, und der Name, der da lautet Tag. Keins kann sich vom anderen scheiden, beide, Sonne und Tag, blühen ganz aus einem Kern.«

Was für eine Perspektive: Der oft so unversöhnlichen Zweiheit liegt ein geheimnisvoller, einheitlicher Ursprung zugrunde, und Partnerschaft würde bedeuten, diese Einheit bewusst wieder herzustellen! Dann aber entblößt sich uns mit Gawan ein dunkler, aber täglich virulenter Zusammenhang: die Wirksamkeit einer zerstörerischen Macht, die alles daran setzt, Liebe zu vernichten: Klingsor. In der Figur dieses Schwarzmagiers, der infolge eines Ehebetruges kastriert wird, der unfähig zur Liebe ist und nun alles daran setzt, sie bei den Menschen nie wieder aufkommen zu lassen, entdecken wir den Hintergrund vieler gegenwärtiger Zeiterscheinungen: Er hält in seiner Burg Männer und Frauen radikal getrennt voneinander gefangen – das Phänomen der Isolation unter den Menschen findet hier seinen Ausdruck. Klingsor sät Hass, und wörtlich wird davon erzählt, wie er so auf die Menschen einwirkt, dass sie in einen Zustand dauerhafter Angst versetzt sind – eine Krankheit, die unsere Zivilisation global ergriffen hat. Der »Parzival« fordert uns auf, mit der Frage umzugehen, inwieweit unser Alltags­leben beeinflusst wird von unterschwellig wirkenden Kräften, die auf Zerstörung angelegt sind.

Das Fest der Liebe

Angetrieben von seiner unerschütterlichen Liebe siegt Gawan aber im Kampf mit dem Zauberer und bricht dessen Macht. Damit erlöst er die vielen Hundert Frauen und Männer in der Burg von ihrem Bann, und am Ende ereignet sich einer der schönsten Augenblicke der gesamten Erzählung: ein Fest der Liebe. Alle Frauen und Männer nehmen in dem großen Palast an den Tischen einander gegenüber Platz und sehen sich zum allerersten Mal. Unzählige Kerzen auf den Kronleuchtern und auf den Tischen lassen den Saal in wunderbarem Licht erstrahlen, aber noch mehr Licht geht von den freudevollen Gesichtern der Menschen aus. Die Blicke treffen sich, man wird vertraut und schließlich erklingt Musik – man bittet zum Tanz. Und nun folgt das einzigartige Schlussbild dieses Festes: Nach ungezählten Jahren gewalttätiger Trennung durch den Zauber schließen sich Frauen und Männer zusammen zum Tanz, »überall konnte man sie fröhlich sehen«, »arm an Sorgen, reich an Freuden« werden sie eins in der Musik, in den Bewegungen und schließlich im glücklichen Gespräch. Orgeluse kommt, setzt sich an die Seite Gawans und legt ihre Hand in die seine.

Was bei Gurnemanz noch ein gedankliches Prinzip war, ereignet sich hier. Der »Parzival« definiert nicht die Liebe, sondern lässt sie uns erleben. Genau das ist aber der Kern dieser Erzählung: Wenn im Zentrum das große Geheimnis des Grals steht, die Suche nach ihm, die Schicksale seines Königs und seiner Gemeinschaft, dann stößt man auf die Bedeutung eines bestimmten Bildes, auf das die ganze Handlung ausgerichtet ist – die Aufdeckung.

Wir werden Zeuge eines Wunders: Unablässig spendet der Gral, der nie äußerlich beschrieben wird und damit nicht als dinglicher Gegenstand missverstanden werden kann, sämtlichen Anwesenden Essen und Trinken, also Nahrung.

Wertvolle Gespräche im Unterricht werden durch die Frage ausgelöst: Was ist für den Menschen eigentlich Nahrung? Rasch wird klar: Nicht nur die physische Speise ernährt den Menschen, sondern mindestens genauso Zuneigung, seelische Wärme – Liebe. Auf dem Weg von Parzivals handgreiflichem, aber völlig ahnungslosem Überfall auf die überraschte Jeschute über den Selbstverlust beim Anblick Kondwiramurs in den Blutstropfen im Schnee bis zu dem Moment, in dem er dem gequälten Anfortas die erlösende, mitfühlende Frage stellt: »waz wirret dir?« haben wir eine Fülle von Stationen durchlaufen, in denen wir jeweils ganz unterschied­liche Dimensionen der Wirklichkeit von Liebe erfahren haben. Es hat sich uns etwas mitgeteilt von der Substanz des Grals. Sein Aufdecken verbindet die Menschheit und die Erde mit Christus, und diese Verbindung kann für jeden Menschen zu einer Quelle der liebevollen Hinwendung zum Mitmenschen und zur Natur werden. 

Zum Autor: Andre Bartoniczek ist Oberstufenlehrer für Deutsch und Geschichte an der Waldorfschule Stuttgart-Uhlandshöhe und in der Lehrerausbildung tätig.