Wer einmal die Weite der Canyonlandschaft des amerikanischen Westens erlebt hat, der kennt vielleicht das Gefühl der Überwältigung, das man in ihr empfinden kann. Schon der Blick über Erde und Himmel ist beeindruckend. Vor diesem Anblick schrumpft man innerlich. Man empfindet sich als Mensch winzig und unbedeutend. Am Rand eines klaftertiefen Canyons streift das Auge über die monumentalen Gebilde des roten Sedimentgesteins, nimmt die Veränderung der Schatten durch Sonnenlicht und Wolkenzug wie ein Drama des raumgreifenden und wesenhaft wirkenden Gesteins in Form von Tafelbergen, Riesenbögen und stillen, dunklen Schluchten auf.
Es ist ein Schauspiel der Erdzeitalter, der jahrtausendalten Wasser- und Windkräfte, das in der aufbrechenden Gebärde dieser Landschaft die gewaltige Wirklichkeit unserer Erde zeigt. Es ruft in mir eine Empfindung der Ehrfurcht hervor, die mich auf eine innere Reise gehen lässt. Ich denke an die Menschen, die mit dieser Landschaft in Berührung kamen, ihre Fremdheits-, Ehrfurchts- und Anpassungserfahrungen, ihre Aufbrüche und Ziele, ihre Kämpfe und Hoffnungen, ihren Frieden.
Und natürlich kommen mir die Mythen und Lieder der amerikanischen Ureinwohner in den Sinn, als rhythmische, weisheitsvolle Resonanz auf diese Umgebung. Sie betten mich noch tiefer in die Landschaft ein. Die schöpferischen Winde, das Sonnenwesen, die Donnerwesen, deren Grollen von den tiefen Canyonwänden widerhallt, der geheimnisvolle Wolf, an dem der Pawnee-Mensch seine Ursünde beging, der egozentrische, tollpatschige und zugleich listig-schlaue, immer hilfsbereite Koyote, der leichtfüßig die Prärie durchstreift – alle beginnen in mir zu leben.
Waldorfschule in Salt Lake City
In dieser Landschaft, am Fuße eines südwestlichen Ausläufers der Rocky Mountains, »Wasatch« genannt (in der Sprache der Ute: Gebirgspass), entstand 2016 in Salt Lake City – nach einem vorausgegangenen gescheiterten Versuch – die wohl größte Waldorfschule Nordamerikas. Rund 600 Schülerinnen und Schüler schritten am ersten Schultag durch die geöffneten Türen und noch immer warten Hunderte auf der Warteliste. Im Rahmen des US Charter School Program konnte die Wasatch Charter School fast vollständig staatlich finanziert ihr Ziel »Waldorf for everyone« verwirklichen.
Wie man sich vorstellen kann, steht auch nach zwei Jahren hinter dem Versuch, dieser Größe gerecht zu werden, ein riesiger Kraftakt. Natürlich enthält nicht jede Unterrichtsstunde perfekt durchgestaltete Waldorfpädagogik und manche Waldorfleute hätten mit Sicherheit einiges auszusetzen. Es gibt fast täglich kleine oder auch große Momente der Überforderung, der Ungewissheit, sogar der Verzweiflung, aber die Abstände zwischen diesen Momenten werden größer. Die meisten Lehrerinnen und Lehrer besuchen nebenbei einen berufsbegleitenden Kurs in Waldorfpädagogik und werden jahrgangsspezifisch von Mentoren im Epochenlehrplan begleitet. Aus dieser Situation ergibt sich eine Arbeitsgemeinschaft, die ohne etablierte Strukturen der Waldorfpädagogik diese zum ersten Mal umsetzt – mit Kindern, die – bis auf wenige Ausnahmen – das erste Mal Waldorfunterricht erleben. Besonders vor dem Hintergrund der Erfahrung mit dem staatlichen Schulsystem leuchtet die Freude am Lernen, die Fröhlichkeit, das Gemeinschaftsgefühl und die gemeinsam empfundene Ehrfurcht vor der Welt auf.
Die Freude und die Kraft speist sich aus zwei miteinander arbeitenden und sich aneinander reibenden Menschengruppen. Zum einen sind da die erfahrenen Dozenten und Mentoren, die sich mit ihrem in der Akkreditierung befindlichen berufsbegleitenden Seminar für die qualitätsvolle Umsetzung der Waldorfpädagogik in den Schulen (überwiegend Charter Schools) einsetzen. Ihnen geht es darum, neben einem guten Mentoren-Programm für die Didaktik, den Lehrerinnen und Lehrern einen Zugang zur Anthroposophie zu vermitteln, um zu gewährleisten, dass die Waldorfpädagogik nicht verwässert. Keine leichte Aufgabe bei einem Lehrpersonal, das ohnehin schon mit 30 bis 40 Stunden pro Woche Unterricht ausgelastet ist.
Zum anderen sind da die jungen Lehrerinnen und Lehrer, die in einer sich rasant entwickelnden Welt, in einem politisch sehr strapazierten und emotionalisierten Land jeden Tag neuen Fragen begegnen, für die sie nachhaltige, sinnvolle und unkonventionelle Antworten suchen. Täglich stehen diese Erwachsenen vor einer in der Waldorfgeschichte beispiellos vielfältigen Klasse, in der sie jedem Kind das Gefühl geben wollen: »Hier bin ich richtig, hier bin ich Zuhause.« Viele verstehen daher die Waldorfpädagogik nicht als Rezept, sondern als Raum für Entwicklung ihrer eigenen Verantwortung und suchen nach Wegen, nicht dem »Waldorfwashing« zu unterliegen.
Reicher Schatz an Mythen
Die Ausrichtung der Waldorfpädagogik auf Mythen, Märchen und Sagen wird an unserer Schule neben dem künstlerisch-musischen Ansatz als Schlüsselfunktion mit großem Potenzial erkannt. Ähnlich wie der Musik kommt dem Erzählen eine zentrale Funktion zu. Es bildet die notwendigen Beziehungen, die in so einer großen Gruppe entstehen müssen, und bringt die gesamte Schulgemeinschaft trotz aller digitalen Ablenkung zusammen. Wenn der Klassenlehrer der vierten Klasse fragt, ob es nicht besser wäre, nord- oder mittelamerikanische Mythologien statt der nordischen zu unterrichten, dann ist der Grund kein Missverständnis des Menschenbildes Rudolf Steiners, sondern zeigt die weitreichende Bedeutung dieses Narrativs und das verantwortungsbewusste Wahrnehmungsvermögen, mit dem dieser Lehrer versucht, den Bedürfnissen der Kinder in ihrer individuellen seelisch-geistigen Situation gerecht zu werden. In einer ersten Klasse, in der es fast ebenso viele Schüler mit lateinamerikanischen, afro-amerikanischen oder asiatischen Wurzeln gibt, wie Kinder mit europäischem Hintergrund, beginnen Klassenlehrer zu fragen, wo sie – außer in der Grimmschen Sammlung – nach relevanten Märchen suchen können, die die Kinder mit ihren seelisch-geistigen Wurzeln verbinden. Darüber hinaus besteht der Wunsch, den Kindern diese anderen, autochthonen Mythen in einer Art zu vermitteln, die sie in ihrer Bedeutung vor dem Hintergrund des üblichen »Kanons« des Lehrplans nicht herabsetzt. Unsere geopolitischen Umstände im 21. Jahrhundert fordern uns mit einer gewissen Dringlichkeit auf, Antworten zu finden und unseren Horizont zu erweitern.
Wir stehen vor der Herausforderung, unsere tieferen gemeinsamen Wurzeln zu suchen, anstatt an veralteten Abgrenzungen festzuhalten. Der Blick auf die uns allen gemeinsame Innerlichkeit, auf die verwandten mythischen Urbilder, soll in uns die gegenseitige Achtung für unsere menschliche Verschiedenheit wecken.
Die verbindende Wirkung des anthroposophischen Menschenbildes
Die Entwicklung der Wasatch Charter School zeigt, dass sich eine Gemeinschaft trotz Vielfalt und Komplexität durch ein zentrales anthroposophisch geprägtes Menschenbild entwickeln kann. Hier suchen Menschen, die in ihrer Schule örtlich und durch ihr Denken global verwurzelt sind, Gemeinschaft in der Vielfalt. Sie üben einen Blick, der im Verschiedenen etwas Verbindendes, Vereinendes zu entdecken vermag.
Dieses Verbindende findet sie auch in den Mythen und Sagen, die als global gemeinschaftstiftendes Element immer noch unterschätzt werden. Es enthält ein Gefüge vielschichtiger spiritueller Entwicklungen, aus dem wir ein Bild der Gemeinsamkeit entstehen lassen können: das der Gemeinschaft der Menschen dieser einen Erde.
Zur Autorin: Dr. Heidrun Kubiessa hatte an der Wasatch Charter School als Klassenlehrerin unterrichtet und mentoriert. An der University of Utah hatte sie einen Lehrauftrag in deutscher Sprache und Literatur. Seit diesem Schuljahr ist sie Englischlehrerin an der Freien Waldorfschule Schopfheim.