Kapitelüberschriften wie Menschenkundliche Grundlagen einer modernen Angelologie sowie Mensch und Engel kennzeichnen die vielfältigen Verbindungslinien von Menschenkunde und Engelkunde, die der Autor aufspannt. Einerseits Himmelslinien, die vertikal in die dreifach hierarchisch gegliederten Engelreiche aufsteigen und wiederum absteigen bis in die Reiche der Elemente Wasser und Luft – andererseits historische Linien die einen weiten geschichtlichen Horizont aufschließen. Altes und neues Engelbewusstsein wird beleuchtet und immer wieder sub specie anthroposophiae erhellt: von Ovid, Paulus und Dionysios Areopagita bis zu Josef Micha bin Gorions gesammeltem hebräischem Sagenkreis, wobei der Schwerpunkt auf »die Ursprünge und Grundlagen christlich-religiöser Überlieferung« gelegt wurde, namentlich auf den Apostel Paulus.
So endet das letzte Kapitel des Buchs Paulus vor Damaskus und die Überwindung des Todes, das Briefpassagen des Paulus an die Korinther zitiert und interpretiert, mit folgendem Satz: »Für Paulus öffnete sich die zehnte Pforte.«
Nach diesem letzten Satz habe ich mich als Leser gefragt, wo im Buch eigentlich die »zehnte Pforte« des Titels beschrieben wurde? Vom Menschen als zehnte Hierarchie beziehungsweise vom Menschsein als vorangegangene Entwicklungsstufe der Angeloi war die Rede, aber wie soll ich mir die zehnte Pforte vorstellen? Im Kapitel Das Leben der Seele ist Bild in Bildern heißt es über die Angeloi: »Deren Denken stellt sich in geistigen Bildern, in Imaginationen dar. Dem eifert der Mensch nach. Sein Inneres stellt sich als ein Leben der Seele in Bildern dar.«
Die zehnte Pforte ist ein Bild, sie wird vom Autor nicht begrifflich erläutert. Der Leser muss sich selbst ein Bild von ihr machen – oder entsprechende Bilder betrachten! Einige der das Buch illustrierenden Bilder könnten ein Bild oder einen bildlichen Aspekt der zehnten Pforte darstellen, allen voran das Umschlagsbild, das den Fresco-Ausschnitt Stufenleiter der Tugenden im Kloster Suceviţa in Rumänien zeigt. Auf himmelblauem Grund ragt eine lange Leiter diagonal gen Himmel, auf der tugendhafte Menschen nach oben steigen. Die Leiter erscheint perspektivisch am unteren Ende wie eine breite, recht bequem zu betretende Treppe, wirkt aber nach oben hin gefährlich verdreht, wodurch die Abstürze der am oberen Rande der Leiter Herabfallenden dramatisch gesteigert werden. Selbst kurz vor Erreichen der Himmelspforte droht noch Gefahr. Über den Häuptern der Reihe der fünfzehn sicher hinauf schreitenden Tugendhaften schweben Reihen von Engeln mit Gaben in Händen. Mich als Betrachter erinnern die Gesten der Engel über den Häuptern auf diesem »Ausgangsbild« des Umschlags wieder an jenen »Ausgangspunkt« den Schiller in seiner Einleitung hervorgehoben hat.
An eben jenen Hinweis Rudolf Steiners auf die Bedeutung der Engelwirksamkeit für die Erneuerung der pädagogischen Kunst, die er seinerzeit in Bildern, in Imaginationen mitteilte, wie Herbert Hahn, einer der ersten Lehrer, überlieferte: »Hinter jedem einzelnen Mitglied des werdenden Lehrerkollegiums sehen wir den Engel stehen. Er legt beide Hände auf das Haupt des seiner Hut anvertrauten Erdenmenschen. Und in dieser Haltung und mit dieser Gebärde lässt er Kraft hinüberströmen.«
Als Leser hat mich das Ende des Buchs wieder an seinen Anfang zurückgeführt, von wo aus ich die vielen beigegebenen Bilder neu betrachte und in ihnen nach weiteren Aspekten der zehnten Pforte Ausschau halte.
Hartwig Schiller: Die zehnte Pforte. Die himmlischen Hierarchien und der Mensch, geb., 204 S., EUR 22,– Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2019