Wir waren inzwischen ein eingespieltes Team, was den digitalen Unterricht betraf und so ließ sich auch das Thema Handwerk ganz gut in Text und einigermaßen freien Aufgaben zuhause unterrichten. Trotz allem war der digitale Unterricht nur eine Krücke und als Mitte der Woche klar war, dass wir in Woche 2 dieser Epoche wieder in den Präsenzunterricht zurückdürften, war die Freude auf allen Seiten groß.
Im Wechselunterricht trafen wir uns in halber Klassenstärke in der Schule. Aufgeregt begrüßten wir uns nach langer Zeit und freuten uns auf Schule, wie wir sie in Erinnerung hatten.
Doch weit gefehlt! Wir saßen an unseren Bänken und Tischen, sollten uns so wenig wie möglich bewegen, konnten »unsere« Lieder nicht singen und sahen, dank Maske, unsere Mimik nicht.
So wirkte unser Morgenritual steif, die üblichen kleinen Gespräche konnten aufgrund der Sitzordnung nicht stattfinden, Gruppenarbeit und Interaktion waren unerwünscht und im Endeffekt herrschte ein etwas langweiliger, wenig stimulierender, dafür aerosolarmer Frontalunterricht.
Obwohl wir ein erdachtes Handwerkerdorf erfanden und ich all mein schauspielerisches Können bei der Darstellung einer Schmiedin hervorholte, war den Kindern die Enttäuschung über das steife Beisammensein schon am zweiten Schultag anzusehen. Manche gähnten, hatten fragende Blicke, die Kinder im Rubikon zeigten auch deutlicher ihren Unmut und nach drei Tagen fehlten tatsächlich die ersten Kinder wegen Bauchweh. Die Maske verdeckte einfach zu viel Gesicht, wir konnten uns nicht anlächeln, die Gefühle des anderen waren nicht erkennbar, wir kamen zu wenig in Kontakt.
Das Frühstück und die Pause, wo Physiognomie und Mimik sichtbar wurden, waren dagegen ein Fest. Es wurde gelacht und gekichert, erzählt und berichtet, gerannt und gerufen.
Die einzige Schulstunde, in der die Kinder in der ersten Präsenzwoche trotz Maske genauso wach und aktiv waren wie in den Pausen, war die Ersatz-Sportstunde unseres Sportlehrers, denn da wurde mit Ton gearbeitet. Ton an sich ist ein gebendes und heilendes Material und verbindet den Menschen mit sich selbst und seiner Umwelt durch die tätige Hand. Das Tonen funktionierte auch mit Maske!
Waldorfpädagogik bedeutet, dass sich das Unterrichtsangebot an den (Entwicklungs-)bedürfnissen der Kinder orientiert. Mein Unterricht befriedigte mit meinem aktuellen Angebot jedenfalls nicht die besonderen Bedürfnisse, die die Kinder in dieser Zeit hatten, das zeigten sie mir deutlich. Schule durfte nach so langer Abstinenz aber keine Enttäuschung sein, so konnte es also nicht weitergehen!
Sprichwörter wie »Aus der Not eine Tugend machen«, »Not macht erfinderisch« gingen mir durch den Kopf. So kam mir nach zwei schlaflosen Nächten die rettende Idee, die eigentlich ganz nahe lag: Die Kinder sollten weiterhin mit Ton arbeiten. Ihr erfundenes Handwerkerdorf sollten sie in die Tat umsetzen, jedes Kind sollte seine eigene Werkstatt aus Ton herstellen.
»Wer möchte in unserem Dorf der Schmied oder die Schmiedin sein? Wer unser Zimmermann, unsere Zimmerer? Maurer, Gerber, Töpfer, Bäcker, Weber?«, »Darf ich ein Schäfer sein?«, »Wer will die Tischlerin sein, sonst haben wir keine Tische und Bänke!«, »Ich nähe dann deine gewebten Stoffe, ich bin die Schneiderin!« - so waren fast alle Werkstätten schnell vergeben und unser Dorf, in dem jede und jeder eine wichtige Rolle spielen sollte, lebte schon nach kurzer Zeit in unserer Fantasie.
Wer Ideen hat, braucht Verbündete. Die fand ich morgens um halb acht in unserem Hausmeister, der spontan vor Unterrichtsbeginn kleine Tonunterlagen sägte, in unserer Plastizierlehrerin, die uns 40 Kilo Ton lieh (die längst nicht reichen sollten) und vor allem in unserer Praktikantin vom Seminar, die sich sofort tatkräftig und vertrauensvoll mit auf die Reise begab. So begannen wir in Woche drei mit unserem Handwerkerdorf aus Ton.
Wir stellten einen ausgedienten großen Tisch in die Mitte des Klassenzimmers und der Rest war ein Selbstläufer. Die Kinder arbeiteten vom ersten Moment an befreit, begeistert und selbstständig, sodass wir täglich beauftragt wurden, weitere Tische ins Klassenzimmer zu bringen. Die Kinder tauchten ganz in ihre Berufe ein und setzten die Aufgabe, Eine Werkstatt, in die man hineinschauen kann beherzt und ideenreich um. Bald schon »bestellten« sie untereinander die Dinge, die sie als Handwerker herstellten. »Baust du mir ein Regal? Bekomme ich Töpfe von dir? Ich brauche Ziegel für meine Wand! Mist, ich hätte mir mein Dach vom Dachdecker bauen lassen sollen«.
Wer ein Dorf hat, braucht eine Dorfmitte, »Eine Kirche brauchen wir! Mit Seitenschiff!, Das wird eine Großauftrag für die Tischlerin, sooo viele Kirchenbänke!«, »Wer macht die Glocke?«, »Ich baue mir einen Marktstand und verkaufe auf dem Kirchplatz meine Stoffe!«.
Zwei Wochen lang wurde begeistert gearbeitet, geschafft, geschwatzt, geholfen, beraten und gelacht, alles mit Maske. Und was aus dieser freudigen Begeisterung entstanden ist, das sehen Sie auf den Fotos: ein lebendiges Handwerkerdorf mit Namen Mühlental.
Ein vollständiges Handwerker-Epochenheft besitzen wir nun nicht, nur die Reste aus Woche 1 und 2. »Da haben wir noch geschrieben!«, sagte eine Schülerin zu mir, als wäre das aus einer fernen Zeit.
Nun ist die Handwerker*innen-Epoche zu Ende, die Sprachlehre-Epoche, folgt – Mühlental braucht dringend eine Zeitung!
Für alle, die in Zukunft solch ein Projekt wagen möchten: es braucht nicht nur ca. 100 kg Ton, sondern auch eine kleine Klassengröße und eine flinke, tatkräftige Zweitkraft.