Bildung neu denken. Die integrative Waldorfschule in Emmendingen

Markus Zimmermann-Dürkop

Mir zeigt Balthasar immer wieder, dass wir genau die richtige Schule für unser Kind gefunden haben«, meint sein Vater, der Kunsterzieher an einem staatlichen Gymnasium ist. »Zeigen sie mir ein Kind, das sich Tag für Tag so für die Schule begeistert.« Allein schon für diese Momente habe sich der ganze Kampf  gelohnt. Denn noch vor etwas mehr als einem Jahr sah es gar nicht danach aus, dass der Wunsch von Balthasars Eltern, der mit Down-Syndrom geboren war, in Erfüllung gehen könnte: Er sollte mit seinem älteren Bruder und seiner jüngeren Schwester in dieselbe Schule gehen.

»Manchmal scheint mir der Gewinn für den Älteren fast noch größer«, bemerkt Fischer, der sich über die Selbstverständlichkeit freut, mit der die behinderten Mitschüler in den Klassen aufgenommen werden. »Die ist immer so nett«, hat der zehnjährige Bruder erst jüngst erklärt, weshalb er zu seinem Kindergeburtstag auch eine behinderte Klassenkameradin einladen wollte.

Die Integrative Schule steht für Peter Fischer längst nicht mehr zur Disposition. Auch wenn für ihn nicht völlig klar ist, wie das eigentlich geht. »Wir Familien wissen ja eigentlich auch nicht, wie Integration funktioniert und müssen sie im praktischen Alltagsleben erproben.« Letztlich müsste die Schule im Alltag beweisen, wo sie es besser mache. Solche Fragen sind Nils völlig egal.

Er fühlt sich sicher in seiner Klassengemeinschaft. Noch immer ist mir ein Unterrichtsmorgen vor gut zwei Jahren in wacher Erinnerung: Mit einem Tablett, auf dem eine Muschel liegt, geht Nils vom einem zum anderen. Er überbringt seinen Mitschülern symbolisch den Auftrag zum Vortrag des Wochenspruchs. Während sich die Schüler jeweils auf ihren Spruch konzentrieren, nimmt er hinter ihnen Platz, schließt die Lücke im Stuhlkreis und wandert dann weiter. Es scheint so, als könnten die einen nicht ohne die anderen – nicht weil sie abhängig sind, sondern weil sie zusammengehören.

Beim anschließenden Flötenspiel setzt sich ein Mitschüler ganz selbstverständlich zu Nils und unterstützt ihn bei der Begleitung mit den Takthölzern. Einem anderen Mitschüler wird von einer FSJ-Kraft (Freiwillige, die ein Soziales Jahr ableisten) geholfen. In jeder Klasse unterstützt ein Praktikant oder eine Praktikantin das zweiköpfige Lehrerteam. In einer Klasse mit 28 Schülern sind vier behindert.

»Wir sind gemeinsam verantwortlich, wobei Zuständigkeiten klar abgesprochen sind«, erklärt Erhard Beck, Lehrer der ersten Stunde. Heute sind an der integrierten Waldorfschule Emmendingen Teamverträge eine Selbstverständlichkeit. Das war nicht immer so.

Wie Inklusion gelingen kann

Die Schule startete im Oktober 1995 in Kooperation mit dem Haus Tobias, einer Einrichtung für seelenpflegebedürftige Kinder und Jugendliche in Freiburg. Damals sei es nicht leicht gewesen, in den Teams zusammenzufinden. Klare Absprachen hätten gefehlt, erinnert sich Beck. »Wir brauchten Supervision, Hilfe von außen«. Nach wie vor ist es nicht einfach, Lehrer zu finden, die zur Teamarbeit fähig und bereit sind. Das Schulteam lernt  heute noch – auch wenn es mittlerweile klare Konzepte gibt. Basis ist, dass alle Kinder einer Klasse mit unterschiedlichstem Förderbedarf von den Teams begleitet und gefördert werden. Jede Klasse verfügt über einen Nebenraum, in dem in Kleingruppen gelernt werden kann. Keineswegs nur mit den behinderten Schülern. »Als Gesamtschule ist für uns Binnendifferenzierung selbstverständlich«, sagt Silke Engesser, beauftragt mit der Öffentlichkeitsarbeit. Zum Vertiefen von Stoff und zum Nacharbeiten kann die Kleingruppenarbeit für jeden Schüler wichtig werden.

»Wir lernen den Umgang mit behinderten Menschen in der Normalität«, sagt Björn aus der zehnten Klasse. Es gebe viele Möglichkeiten des gemeinsamen Unterrichts. »Auch in der Oberstufe«, pflichtet ihm seine Klassenkameradin Katharine bei. Neben Hauptunterricht, Sport, Kunsthandwerk und Kunstgeschichte biete sich der gemeinsame Unterricht vor allem  in naturwissenschaftlichen Fächern an, ergänzt der Heilpädagoge Uwe Maier. »Biologie, Chemie, Physik sind anschaulicher, Deutsch und Mathematik eher abstrakt«, erläutert er. Gruppenarbeit sei recht gut integrativ zu machen, Frontalunterricht  problematischer. »Wir schauen immer, für wen es passt, sind nicht festgelegt«, sagt Maier. »Von Ausbremsen, dass wir weniger oder langsamer lernen würden, kann keine Rede sein«, wirft Björn ein, und die gleichaltrige Melina, die lange auf eine staatliche Regelschule ging, ergänzt: »Jeder Schüler bekommt in den kleineren Klassen mehr Aufmerksamkeit. Es wird versucht, alle mitzunehmen und, es findet keine Auslese statt«.

Eine hart erkämpfte Lösung

Dass dies so ist und auch so bleiben kann, dafür haben Schule und Eltern lange – vor allem aber im zurückliegenden Jahr – intensiv gekämpft. Ein vergoldeter Backstein mit der Aufschrift »Bildung neu denken« ziert das Zimmer des Geschäftsführers Michael Löser. Er steht für den gewaltigen Schritt, der mit der juristisch vor dem Verwaltungsgericht gegen das Kultusministerium erkämpften Anerkennung als integrative Schule getan wurde. Verliehen wurde er von einer Initiative, die für Inklusion eintritt. Statt Integration von »Andersartigen« wollen sie eine Bildung, die das Zusammenleben lehrt, ohne Unterschiede.

»Dass das Land gegen das Urteil keine Berufung eingelegt hat, hat viele, auch uns überrascht«, erzählt Michael Löser. Rückwirkend sei die Integrative Waldorfschule (IWS) als Ersatzschule mit integrativer Beschulung zum 1. August 2008 anerkannt worden, was den Eltern der behinderten Erstklässler des Jahrgangs 2008/2009 helfe. Diese hatten trotz eines Verbots ihre Kinder an der IWS eingeschult. Löser erwartet, dass damit auch rückwirkend Zuschüsse bezahlt werden. – Wie die Rahmenbedingungen genau aussehen werden, weiß Löser allerdings nicht, was für eine mittel- und langfristige Planung aber sehr wichtig ist. Mit Schulämtern und Sozialämtern arbeite er seit dem Urteil unproblematisch und auf kurzem Wege zusammen. »Höchst spannend« findet Löser die Frage eines Sozialamtes, das wissen will, warum ein betroffenes Kind nicht an der örtlichen Grundschule die gleiche Unterstützung durch Integrationshelfer erfahren kann. »Von Amts wegen wird hier die UN-Konvention, die Inklusion fordert, aufgegriffen«, freut sich Löser.

Für die IWS sieht er vordringlich die Notwendigkeit, sich auf die interne Arbeit zu konzentrieren, »nachdem der Rechtsstreit viele Kräfte gebunden hat«. Um sinkende Schülerzahlen müsse sich die Schule jedenfalls keine Sorgen machen. »Alle Plätze für behinderte Kinder sind belegt«, sagt Löser, »früher eher seltene Quereinsteiger gibt es jetzt vermehrt«.

Zum Autor: Markus Zimmermann-Dürkop, Jahrgang 1959, arbeitet als freier Journalist und Fotograf im Raum Freiburg. Mehrfacher Schülervater an der Waldorfschule Freiburg St. Georgen. Kontakt zur IWS Emmendingen bestand seit deren Gründung. Die IWS Emmendingen im Netz.