Revolution im Schulwesen

Johannes Denger

Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen verlangt nach inklusiver Bildung. Wenn wir diese Herausforderung als Chance begreifen, kann sie zu einer Erneuerung der Waldorfpädagogik führen. Menschen mit Behinderungen, Schüler, Eltern und Lehrer werden durch die graduelle Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in Schule und Bildung zu Kämpfern für die Menschenrechte und können so zu einer Humanisierung der gesamten Gesellschaft beitragen.

Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ist – wenn der Schein nicht trügt – ein Jahrhundertwerk mit einem beachtlichen Entwicklungspotenzial. Sie stellt den einzelnen Menschen absolut in den Mittelpunkt, kümmert sich um unzählige Facetten des täglichen Lebens und ist letztlich nur durch weitgehende gesellschaftliche Veränderungen zu verwirklichen. In den 1960er Jahren versuchte man, dem Spannungsverhältnis von Menschen mit Behinderungen und Gesellschaft durch das Normalisierungsprinzip zu begegnen, in den 1980er Jahren durch Integration. Jetzt geht es unter dem Stichwort »Inklusion« darum, das Sosein, die Lebenserfahrungen von Menschen mit Behinderungen als einen bereichernden und unverzichtbaren Beitrag zu verstehen und diesen als ein die Gesellschaft wesentlich mitgestaltendes Element zu achten.

Man ist nicht, man wird behindert

Schon in der Präambel der Behindertenrechtskonvention (BRK) wird ein neuer Behinderungsbegriff beschrieben, der Behinderung nicht als eine dem einzelnen anhaftende Eigenschaft versteht, sondern als Prozess, der in der Interaktion zwischen einer Beeinträchtigung und den umwelt- oder einstellungsbedingten Barrieren in der Umgebung entsteht: Man ist nicht, sondern man wird behindert.

Die Grundlage aller UN-Konventionen, der Dreiklang von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, findet sich in der BRK wieder durch die Forderung nach (assistierter) Autonomie, Barrierefreiheit und Inklusion. Autonom ist, wer sich selbst folgen kann. Voraussetzung dafür ist einerseits die gewährte gesellschaftliche Freiheit, andererseits die Fähigkeit des Individuums, aus einer Überschau über die Verhältnisse die Freiheit auch zu nutzen. Barrieren sorgen für Ungleichheit; da, wo sie abgebaut werden, wird Gleichheit möglich. Durch Inklusion schließlich wird Brüderlichkeit verwirklicht. Eine grundlegende Bedeutung für die weitest mögliche Verwirklichung dieser Ideale kommt der Schule zu. Ziel einer inklusiven Bildung ist daher eine Schule für alle.

Basis der schulischen Heilpädagogik auf anthroposophischer Grundlage ist die Waldorfpädagogik. Sie wiederum ist als Teil einer sozialen und politischen Bewegung entstanden, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts die drei Ideale der Französischen Revolution in die Lebenswirklichkeit zu tragen versuchte: Freiheit im kulturellen Leben, Gleichheit im Rechtsleben und Brüderlichkeit im Wirtschaftsleben, so differenzierte der Begründer der Waldorfschule Rudolf Steiner in seiner Dreigliederung des sozialen Organismus das soziale Gemeinwesen.

Die Freie Waldorfschule, eine der ersten Gesamtschulen überhaupt, hat sich als fruchtbarer Versuch seit jener Zeit des Aufbruchs bis heute vielfältig entwickelt. Gerade in der ersten Zeit verstand sie sich als Schule für alle. Immer schon besuchten einzelne Kinder und Jugendliche mit Behinderungen als integrierte Schüler oder Schülerinnen Regel-Waldorfklassen. An vielen Waldorfschulen wurden Förderangebote und Kleinklassen eingerichtet, um den speziellen Anforderungen von Kindern außerhalb von vorhandenen Rahmenbedingungen angemessen gerecht werden zu können. Aber auch im Sonderschulbereich, der sich durch die Segregation in den 1970er Jahren in unzählige Spezialformen aufgeteilt hatte, fand an heilpädagogischen Schulen Integration durch Zusammenführung von Kindern und Jugendlichen mit unterschiedlichem Förderbedarf jenseits der Regelschule statt, eine Form, um die damals rechtlich hart gekämpft werden musste. Seit einigen Jahren entstehen integrative Waldorfschulen mit entsprechend kleinen Klassen und einem Team aus Lehrern und Heilpädagogen.

Entwicklung steht vor Lernzielen

Vor dem Hintergrund dieser gewachsenen Vielfalt an Schulformen stellt sich heute die Frage: In welcher Schule findet das einzelne Kind die geeigneten Mittel und Wege, um in seiner Lebenswirklichkeit zu sich selbst zu finden und den drei oben skizzierten Idealen möglichst nahe zu kommen? Artikel 24 der BRK geht freilich noch viel weiter in der Forderung nach inklusivem Lernen für jedes Kind! Widerstehen wir zunächst der Versuchung, aus Erfahrung bereits zu wissen, dass das sowieso gar nicht geht – wofür es durchaus gute Gründe gibt – und nehmen wir die Herausforderung dieses Dokumentes an, das seit dem 26. März 2009 immerhin auch deutsches Recht ist. Interessanterweise, wenn auch nicht ganz überraschend, stoßen wir dabei auf die Wurzeln der Waldorfpädagogik!

Da wäre zuvorderst die Entwicklungsorientierung. Eine inklusive Unterrichtung von Kindern mit verschiedensten Voraussetzungen ist nur möglich, wenn man sich von einer ausschließlich am Lernziel (z.B. Abitur) orientierten Bildung  verabschiedet und eine radikale Umkehr zur Orientierung an der Entwicklung des einzelnen Kindes vornimmt. Lehrerinnen und Lehrer an heilpädagogischen Schulen sind darin ausgesprochen geübt, weil sie häufig Kinder mit extrem unterschiedlichen Voraussetzungen – etwa was die körperliche Leistungsfähigkeit oder das Vorstellungs- und Sprachvermögen angeht – in einer Klasse führen.

Aber auch die Kinder in den Regelklassen brauchen zunehmend heilpädagogisches Verständnis und verstärkte Hinwendung zum Einzelnen. Integration eines Kindes mit Hilfebedarf in eine Waldorf-Regelklasse war immer in starkem Maße vom Interesse, Engagement und der Vorbildung des Klassenlehrers oder der -lehrerin und der Bereitschaft des ganzen Kollegiums und der Eltern der anderen Kinder abhängig. Wenn Integration oder künftig gar Inklusion gelingt, ist sie für alle Kinder der Klasse von unschätzbarem Wert, etwa in Bezug auf das Entwickeln von Sozialkompetenz.

Somit ist die neue Sicht auf eine inklusive Bildung auch eine Herausforderung für die Lehrerbildung. Will man die ohnehin oft überlasteten Lehrerinnen und Lehrer nicht durch unerfüllbare Aufgaben zusätzlich belasten, müssen neue Wege der Kooperation zwischen Heilpädagogen und Waldorflehrern gefunden und beschritten werden. Erste Entwicklungen auf diesem Felde gibt es bereits. Das Gespräch zwischen Waldorflehrern und Heilpädagogen ist unabdingbare Voraussetzung. Als Heilpädagoge, der Waldorflehrer wurde, und als Klassenlehrer, der zwei Waldorf-Regelklassen führte, weiß ich um die Fruchtbarkeit der Verbindung der pädagogischen mit der heilpädagogischen Kompetenz in der Begegnung mit dem Kind.

Waldorflehrer und Heilpädagogen suchen das Gespräch

Zur Zeit finden intensive Fachgespräche zwischen Vertretern des Bundes der Waldorfschulen und des Verbands für anthroposophische Heilpädagogik, Sozialtherapie und soziale Arbeit statt. Unter anderem wird dabei ein Thesenpapier als inhaltlicher Ausgangspunkt für künftige Entwicklungen erstellt. Bei den bisherigen Gesprächen wurde auch deutlich, dass man die weitere Entwicklung mit großer Wachsamkeit begleiten muss, damit der Paradigmenwechsel nicht zu Lasten der Kinder geht und nicht vorwiegend dazu missbraucht wird, um dem Bildungswesen für Kinder mit Hilfebedarf die finanziellen Mittel zu entziehen.

Wollen wir in der herausfordernden Fragestellung nach Inklusion urteilsfähig werden, müssen wir also Schichtenurteile bilden und die gesellschaftliche, die politische, die schulrechtliche und die methodisch-didaktische Ebene unterscheiden. So wird es in den kommenden Jahren darum gehen, Erfahrungen zu sammeln, ob und wie durch Inklusion das einzelne Kind seine ihm gerecht werdende Bildung erhält. So lange – und zumindest als längerfristiger Übergang – ist ein vielfältiges Angebot von Schul- und Gemeinschaftsformen unverzichtbar für die individuellen Wege von Kindern mit und ohne Behinderungen, die Menschenrechte zu erüben und zu leben.

Der Zeitgeist fordert den übenden Menschen

Der Philosoph Peter Sloterdijk fragt in seinem neuen Buch Du musst dein Leben ändern nach dem Paradigma des 21. Jahrhunderts. Sei es im 20. Jahrhundert um die Entwicklung von Selbstwahl und Selbstbestimmung gegangen, so sei das neu angebrochene Jahrhundert das des übenden Menschen. Ausgangspunkt für diese Hypothese ist für Sloterdijk der Mensch mit Behinderung: »Demzufolge besitzt der Behinderte die Chance, seine Geworfenheit in die Behinderung als Ausgangspunkt einer umfassenden Selbstwahl zu erfassen. … Die Behinderung wird … als eine Schule des Willens gedeutet. ›Wer von Geburt an auf eigene Versuche angewiesen ist und nicht daran gehindert wird … bei dem entwickelt sich ein Wille … der Trieb zur Selbständigkeit … reizt zu fortdauernden Versuchen an.‹« Und Sloterdijk fährt fort: »Indem sie es schaffen, die Paradoxien ihrer Daseinsweise zu entfalten, können Behinderte zu überzeugenden Dozenten der conditio humana werden – übende Wesen einer besonderen Kategorie mit einer Botschaft für übende Wesen im allgemeinen.«

Menschen ohne ausgeprägte Behinderungen können von Menschen mit Behinderungen außerordentlich viel lernen – und umgekehrt natürlich auch. Es geht also nicht nur darum, ihnen nicht die volle gesellschaftliche Teilnahme und Teilhabe vorzuenthalten, sondern ebenso darum, sie nicht der Gesellschaft vorzuenthalten. Wir sind schlicht aufeinander angewiesen. Moralische Phantasie und moralische Technik zur Verwirklichung der Inklusion müssen jetzt entwickelt werden.

Zum Autor: Johannes Denger ist Heilpädagoge und Waldorflehrer. Er arbeitet als Referent für Bildung, Ethik und Öffentlichkeit im Verband für anthroposophische Heilpädagogik, Sozialtherapie und soziale Arbeit e.V.