Krücke Internet. Wie die digitale Revolution unser Gedächtnis verändert

Mathias Maurer

Technologie verändert den Menschen

Vor langer Zeit gab es nur das gesprochene Wort: Erzählungen und mündliche Berichte. Wissen wurde sprechend vermittelt. Informationen waren untrennbar mit sozialen Ereignissen und Vorgängen verbunden, eingebettet in menschliche Interaktion und Begegnung. Man denke nur an die Entstehung und Weitergabe unseres kulturellen und spirituellen Wissens in Form von Mythen, Epen, Sagen, Märchen und religiösen Offenbarungen oder kultischen Praktiken. Sie gingen von Mund zu Ohr. Ihre Authentizität erlebte der hörende Mensch unmittelbar – durch die Wahrnehmung dessen, der sprach.

Dann kam die Schrift und mit ihr eine erste Einschränkung menschlicher Gedächtnisleistung. Das vermutete schon Platon im Dialog »Phaidros«: Die Erfindung der Buchstaben werde den Seelen der Lernenden das Vergessen einflößen. – Doch durch die neuen Techniken der Wissensaneignung und Dokumentation erschlossen sich bisher »unerhörte« Horizonte. Das moderne Wissenschaftsverständnis wurde mit der Buchdruckerkunst geboren. Bis heute repräsentiert das gedruckte Buch Validität und Seriosität der Erkenntnisse und Ergebnisse trotz aller gegenteiligen Behauptungen. Nicht von ungefähr wird »Copy and Paste« (»Kopieren und Ersetzen«) von der Schule bis zur Universität nicht als eigenständige Leistung anerkannt – wenn es denn bemerkt wird. Nicht einfache Reproduktion, sondern originelle und individualisierte Aneignung wird verlangt.

Gerd Gigerenzer, Direktor des Center for Adaptive Behavior and Cognition am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, geht davon aus, dass der Umgang mit dem Internet unser Denken verändert, denn es verlagert die Suche nach Informationen aus unserem Kopf nach außen. Statt unser Langzeitgedächtnis zu bemühen, erledigen wir diese Suche bequem mittels einer Suchmaschine. Deshalb fällt es vielen Menschen, besonders Kindern, schwer, sich Märchen, Gedichte oder Lieder zu merken. Gigerenzer verweist auf einen weiteren gravierenden Unterschied: Um Informationen aus dem Netz zu ziehen, benötigt man keine sozialen Fähigkeiten mehr.

Seine Vermutungen scheinen von Gary Small, Professor für Psychiatrie an der University of California Los Angeles, bestätigt zu werden. Der Neuropsychologe stellte fest, dass sich unser Denken durch Internet, Konsolen und Smart­phones verändert. Der multimediale Dauerzugriff ver­ändert nicht nur die Aktivitätsmuster unseres Gehirns, sondern auch unser Lern- und Sozialverhalten. Demnach beeinflusst und strukturiert der Internetkonsum Bereiche des Gehirns, die dafü̈r zuständig sind, wie wir Probleme lösen, Emotionen erkennen und kontrollieren, uns konzentrieren und Bedü̈rfnisse zugunsten langfristiger Ziele aufschieben können. Eine Studie mit Acht- bis 23-Jährigen zeigte, dass sie emotionale Signale fehldeuten und eine Kommunikation von Angesicht zu Angesicht ihnen Schwierigkeiten bereitet. Das biologische Gedächtnis wird schwächer, wenn wir nicht mehr Inhalte lernen, sondern lernen, wo wir diese Inhalte am schnellsten finden.

Der Ulmer Neurowissenschaftler und Lernforscher Manfred Spitzer formulierte es kürzlich in der Frankfurter Allge­meinen Zeitung drastisch: Der mediale Dauergebrauch macht nicht nur dumm, sondern auch dumpf. Denn die Inhalte werden geistig gar nicht mehr verarbeitetet und bei Gewalttätig­keiten schreitet man nicht mehr ein, sondern zückt das Handy und stellt den Film ins Netz.

Gedächtnisse gibt es viele

Die New Yorker Entwicklungs­psychologin Katherine Nelson beschreibt das Gedächtnis als ein bio-sozio-kulturelles System.

Folgende Gedächtnisformen werden unterschieden, die unmittelbar identitätsstiftend sind.

Es gibt das soziale Gedächtnis, das stark von familiären Bindungen geprägt ist. Wie stark, lässt sich an den Ehrenmorden ablesen, wie zum Beispiel an Hatun Sürücü in Berlin, die die Identität eines sozialen Zusammenhangs – die Ehre der Familie – wiederherstellen sollen.

Es gibt das kulturelle Gedächtnis, in das all das einfließt, was uns in einen nationalen oder ethnischen Kontext einbindet. Ohne gültigen Pass ist man bei jeder Grenzkontrolle nahezu identitätslos. Eingängig schildert Max Frisch in seinem Roman »Stiller«, welche Probleme entstehen, wenn diese Zuordnung nicht funktioniert.

Schließlich das kommunikative Gedächtnis, das besonders durch Sprache angelegt wird. Harald Welzer, Leiter des Kulturwissenschaftlichen Instituts in Essen, und der Bielefelder Psychologe Hans-Joachim Markowitsch gehen davon aus, dass zunehmende Sprachkompetenz und die Entwicklung des Gedächtnisses nahezu eine Einheit bilden und dass sich nicht nur der Inhalt, sondern auch die Struktur des Gedächtnisses durch sprach­liche Kommuni­kation bildet.

Bis zum zweiten Lebens­jahr, so Colin Trevarthen, Säuglingsforscher an der Universität Edinburgh, arbeitet das Gedächtnis nahezu vollständig »körper-implizit«. Demnach verfügen kleine Kinder noch nicht über ein autobiographisches Gedächtnis. Erst mit dem Spracherwerb differenziert und integriert das Kind die unterschiedlichen Gedächtnis­ebenen.

Eines wird dabei deutlich: Gute Sprache und differenzierte Ausdrucksmöglich­keiten, eingeübt in Anteil nehmenden, empathie- und gefühlsgetragenen Dialogen, sogenannten memory talks, führen zu guten Gedächtnisanlagen.

Dieser sozio-kulturelle Aspekt ist wiederum an bestimmte Phasen der Hirnreifung geknüpft, die erst nach Ende der Pubertät abgeschlossen ist.

Gedächtnis aus anthroposophischer Sicht

Rudolf Steiner geht in seiner »Menschenkunde« weit über diese bio-sozio-kulturellen Rahmenbedingungen hinaus. Bei ihm ist das Gedächtnis nicht im Kopf zu finden. Er vergleicht das Erinnern mit einem Aufwach-, das Vergessen mit einem Einschlafprozess. Wenn wir uns erinnern, holen wir nicht irgendwo in einem Hirnareal abgelegte Vorstellungen hervor, sondern nehmen erneut wahr, was sich uns als Erinnerung im buchstäblichen Sinn einverleibt hat. Den Bild-Speicher bezeichnet Steiner als Ätherleib, ein feinstoffliches Gebilde, das Träger aller Lebens- und Gestaltungsprozesse unseres Körpers ist. Was erinnert wird, sind nicht die Vorstellungsinhalte oder Begriffe, sondern die mit ihnen verknüpften seelisch-bildhaften Erlebnisse: Gefühlsregungen, Spannungen oder Stimmungen, die sich in diesen »Leib« eingeschrieben haben. Mehr noch: Polar zum Erinnerungsvorgang bildet sich das Erlebte bis in unsere physischen Organe hinein ab und prägt unsere Art zu erinnern.

Wie wichtig der Zusammenhang von Tätigkeiten und Aus­bildung des Erinnerungsvermögens ist, hat der Anthropologe und Waldorfpädagoge Ernst-Michael Kranich heraus­gearbeitet. Insofern liegt es nahe, von einem leibgebundenen Gedächtnis zu sprechen, das sich auf den gesamten Körper stützt. Diese Gedächtnis­inhalte werden über das Gefühl und den Willen wieder hervorgeholt, nicht durch verstandesmäßige Gedächtnisübungen. Seine pädagogische Gedächtnislehre fasst Steiner formelhaft zu­sammen: »Begriffe belasten das Gedächtnis. Anschaulich-Künstlerisches bildet das Gedächtnis. Willensanstrengung, Willensbetätigung befestigt das Gedächtnis.« – So gesehen stellt das Internet einen Angriff auf das autonome Gefühls- und Willensleben dar, denn Gefühl und Wille entfalten sich in Zeit und Raum. Der Nutzer wird dieser Anstrengung enthoben: Er will und bekommt das Ergebnis sofort und jetzt.

Die Abschaffung des Gedächtnisses und ihre Folgen

Nach Aleida Assmann, Literaturwissenschaftlerin an der Universität Konstanz, ist die zunehmende Übertragung von Wissen ins Internet ein gigantischer Entmaterialisierungsprozess. Doch unser Gedächtnis bedarf der materiellen oder menschlichen Bewahrung des Wissens, da das Internet in seiner Grundstruktur wenig zuverlässig, unbeständig und im Grunde ein Gedächtnis ohne Träger ist, der vernetzt, auswählt und gewichtet. Das kulturelle und soziale Gedächtnis und das mit ihm verbundene Gedächtnis des einzelnen Individuums (autobiographisches Gedächtnis) verändern sich, je nachdem, in welchem Medium Wissen vermittelt wird. Das gilt besonders dann, wenn das Erinnern selbst – Facebook, Youtube und ähnliches zeigen es – zum medialen Ereignis, zur Selbstinszenierung wird.

Der Karlsruher Mediengeschichtler Götz Großklaus betont vor diesem Hintergrund, wie die bewegte Bilderflut, die in Form von Fotos, Videos, Filmen und Computeranimationen ein wichtiges Gestaltungselement des Internets darstellen – mehr als das Medium Sprache und Schrift –, in einer engen Beziehung zu den in uns lebenden inneren Bildern, die mit unserer Erinnerungen und unseren Vorstellungen zusammenhängen, steht.

Die Sehnsucht nach Bildern ist dem Menschen eingeboren. Sie ist die Sehnsucht der Seele nach innerer Bewegung. Wir leben in einer Zeit, in der die Entstehung eines inneren Bilderreichtums dadurch erschwert ist, dass wir Bilder nur noch von außen empfangen. Der Hunger nach äußeren Bildern wird umso größer, je mehr die innere Bilderwelt verarmt. Die äußeren Bilder ernähren die Seele nur scheinbar. Die Veräußerlichung entleert die Seele mehr und mehr. Sie verzerrt und verfälscht das Bild, das wir von uns und anderen haben. Welt- und Selbstbild setzen sich aus zahllosen Bildsplittern zusammen, die keinem inneren Zusammenhang mehr folgen. Die Bilder in ihrer Omnipräsenz drohen die innere Bilderwelt und das »wahre« Selbst zu überdecken. Indianer scheuen die Fotografie bis heute, denn die Bilder »fangen« ihre Seele ein. Fotografien heben einen flüchtigen Gegenwartsmoment in die Totale, die keine Vergangenheit und keine Zukunft kennt. Wer hat  nicht schon einmal beim Blick auf eine Fotografie ausgerufen: »Das bin doch nicht ich?« Das menschliche Ich überprüft, ob das Erinnerungsbild mit dem wirklichen Vorgang oder wahrgenommenen Gegenstand oder Selbstbild identisch oder eine bloße Illusion ist. Es blickt durch das Bild auf das Erinnerte.

Roy Baumeister, Sozialpsychologe an der Florida State University, spricht von »Ich-Erschöpfung«: Der menschliche Wille erlahmt, wenn er sich in einer Flut von Informationen und Bildern permanent entscheiden soll, was wichtig oder unwichtig ist. Die Energie, sich zu konzentrieren und aktiv zu beschränken, kann nicht mehr aufgebracht werden.

Alle Gedächtnisinhalte werden veräußerlicht. Der Mensch erscheint als ein gedächtnisloses Wesen, das seinen Geist zunehmend »auslagert«. Und es stellt sich die Frage, ob der Mensch ohne Gedächtnis, ohne Geschichte seiner Innenwelt, gar sein Ich verliert. Berühmt wurde dieses Szenario durch die Verfilmung des Zukunftsromans »A Clockwork Orange« von Stanley Kubrick. In einer Szene muss der Hauptdarsteller Alex mit zwangsweise offen gehaltenen Augenlidern immer wieder Gewaltbilder anschauen. Was als Resozialisierungstherapie gedacht war, kommt einer folterähnlichen Gehirnwäsche gleich. Der Protagonist wird zur ichlosen Hohlform mit katastrophalen Folgen.

Die italienische Soziologin Elena Esposito würde der eingangs zitierten Befürchtung Platons wohl zustimmen, denn die modernen Kommunikationsmedien sind für sie  »Werkzeuge des Vergessens«. Anders könne der Informationsüberschuss einfach nicht mehr bewältigt werden. Speichern ist demnach nicht Erinnern von Informationen und schon gar nicht deren kommunikativer Gebrauch. Esposito ruft gar die »telematische Revolution« aus, in der der Nutzer, vom elektronischen Medium eingesaugt, mit ihm nahezu verschmilzt und vom nie versiegenden Datenstrom mitgerissen wird. Subjekt und Objekt werden eins. Ob allerdings der von ihr angeführte Beleg – das erstarkte Interesse an religiösen und esoterischen Inhalten – tatsächlich eine Gegenbewegung einläutet, die den »Digital Natives« wieder eine Orientierung gibt, mag bezweifelt werden. Denn eine eindimensionale Welt ist immer eine Fallgrube für das Ich.