Älterwerden – auch ein Thema in der Oberstufe

Dietmar Müller

Älterwerden, Altwerden, Altsein als elementare Bestandteile unserer Gesellschaft – und auch des eigenen Lebens – werden oft erst dann thematisiert, wenn in den Fächern Geographie, Sozialkunde, Politik oder auch Mathematik Bevölkerungsstrukturen und deren Entwicklungstendenzen behandelt werden: »Dann muss ich ja später höhere Beiträge zur Rentenversicherung zahlen und länger arbeiten als meine Eltern jetzt! Gibt’s dann überhaupt noch Rente? Was machen die vielen alten Menschen dann eigentlich?«

Für die Unterrichte oder auch für einzelne Projekte in der Oberstufe scheinen mir zwei Ansatzpunkte wichtig. Zum einen sollte der Blick auf die eigene Entwicklung der Schüler gelenkt werden – über das achtzehnte Lebensjahr hinaus –, vor dem Hintergrund der Frage nach der Verantwortung für das eigene Leben und der Verantwortung für die Gesellschaft.

Zum anderen ist wichtig, die demographische Entwicklung nicht als ein Schreckgespenst zu sehen, sondern als Aufforderung, die damit verbundenen neuen gesellschaft­lichen Aufgaben zu erkennen und aktiv zu ergreifen.

Dramatische Lebenslinien verfolgen

Eine Lebenslinie in ihrer inneren Dynamik, mit all ihren scheinbaren Verwerfungen und Irrungen zu verfolgen, ist ja ein Grundthema des Deutschunterrichts in der Klasse 11; herausragendes Beispiel ist »Parzival« von Wolfram von Eschenbach. Ich habe aber auch gute Erfahrungen gemacht mit »Kassandra« von Christa Wolf als Entwicklungsroman. Die zentrale Frage nach der Übernahme von Verantwortung kann so über die literarische Bearbeitung hinaus zu einer eigenen, existenziellen werden.

Entwicklungsbegleitung

Kann der jugendliche Mensch eigene Impulse in seiner Biographie entdecken, können sie Ausgangspunkt anstehender Entscheidungen werden. Eine Hilfe können dabei pädagogische Beratungsformen wie Lernbegleitung oder auch Entwicklungsbegleitung sein. Damit ist nicht eine konkrete Berufsberatung gemeint, sondern dass Schule die Möglichkeit bietet, fächerübergreifend und unter Einbeziehung auch außerschulischer Aktivitäten, die eigenen Kompetenzen zu erkennen und zu erweitern. Diese, möglicherweise portfolioartig erarbeitete Selbsteinschätzung kann eine Grundlage bilden für den weiteren Lebensweg, und zwar nicht nur mit Blick auf eine Ausbildungs- oder Studienentscheidung, sondern auch darüber hinaus. Was darüber hinausgeht, kann in einzelnen Projekten (z.B. im Rahmen einer Oberstufentagung) oder auch in verschiedenen Unterrichten zur Sprache kommen (z.B. im Bereich der Religionsunterrichte oder in den Fächern Philosophie/Ethik, Politik/Sozialkunde oder Sozialwissenschaften, Geschichte, aber auch Deutsch und andere Sprachen). Dazu einige Beispiele.

Patientenverfügung

Mit etwas Vorbereitung und Feingefühl kann die Aufgabe bearbeitet werden, für sich selbst eine Patientenverfügung zu verfassen. Einmal für den jetzigen Zeitpunkt, das heißt für den Fall, dass einem jetzt etwas zustößt, was das Leben sehr einschränken würde, und einmal für die Zeit des Älterwerdens oder Altseins. Die Jugendlichen werden sich in für sie fremde Situationen hineinversetzen müssen und dabei in sich selbst dem nachspüren, was für sie – jetzt – ihr Leben ausmacht. Das ermöglicht einerseits eine Art Lebensentwurf, andererseits das Entdecken der eigenen Lebensmitte oder zumindest die Suche danach.

Krankheit

Diese vielleicht provozierende Aufgaben­stellung kann zu weiteren Fragen führen, die zwar nicht nur, aber doch häufig mit dem Thema Älterwerden und Altsein zusammenhängen. Was bedeuten eigentlich physische und auch psychische Einschränkungen, die ja oft auch als Krankheiten bezeichnet werden? Handelt es sich tatsächlich nur um Einschränkungen? Kann man sie nicht auch als Erweiterung oder Konzentrierung sehen? Bedeutet Demenz nur das Fehlen von gewohnten Lebensäußerungen? Handelt es sich nur um Defekte? Wichtig bei diesen Fragestellungen ist, dass die Jugendlichen, zumindest zum Teil, auf eigene Erfahrungen, die sie zum Beispiel in Praktika oder im familiären Umfeld gemacht haben, zurückgreifen und über diese berichten können.

Daran anschließend lässt sich, vielleicht eher in den Klassen 12 und 13, thematisieren, wie sich in den verschiedenen Phasen des Lebenslaufs die Wahrnehmung, das Denken und dessen Äußerungen verändern.

Neurophysiologie und Gehirnforschung geben dazu ausreichend Hinweise. Hier bietet sich eine sinnvolle Zusammenarbeit der Fächer Biologie und Philosophie, aber auch Sprachen an. Ziel dieser Betrachtungen könnte es sein, die Veränderungen im Älterwerden und im Alter festzustellen, sie aber nicht abzuwerten, sondern sie in der ihnen eigenen Qualität zu erkennen und darin neue Tätigkeitsfelder zu entdecken.

Oral History

Eine weitere Aufgabe kann es sein, mit Hilfe älterer Menschen aus dem eigenen Umfeld oder innerhalb eines Praktikums im Sinne von Oral History Ereignissen aus der Vergangenheit nachzugehen, um sie besser und tiefer verstehen zu können. Diese Form historischer Forschung kann, thematisch differenziert, in allen Klassen der Oberstufe eingesetzt werden. Ein gutes Beispiel für diese Art geschichtlicher Aufarbeitung ist das 2011 erschienene Buch von Katja Thimm »Vatertage – eine deutsche Geschichte«.

Begegnungen mit Älteren

Die Begegnung mit älteren Menschen kann auch unter einem anderen Gesichtspunkt sinnvoll sein: Was können Jugendliche heute den Älteren zeigen? Gerade für Neunt- und Zehntklässler ist es eine reizvolle Aufgabe, einmal in der Woche oder im Rahmen eines Projektes oder Praktikums ihre Computer- und Internet-Erfahrungen weiterzugeben. Diese Art der Begegnung geht über bisher schon praktizierte Formen von Hilfestellungen hinaus und ist, verbunden mit der zuvor skizzierten Aufgabe, eine gute Möglichkeit von Erfahrungsaustausch und Zusammenarbeit der Generationen.

Demographie

Darüber hinaus stellt sich aber auch die Frage, welche gesellschaftlichen Herausforderungen die demographische Entwicklung mit sich bringt. Das kann in den genannten Fächern und Projekten zur Sprache kommen und analysiert werden, in den verschiedenen Klassenstufen wiederum thematisch differenziert. Wichtig ist dabei, dass diese Entwicklung nicht kulturpessimistisch bewertet, sondern als Ausgangspunkt für die Suche nach möglichen gesellschaftlichen Veränderungen genommen wird. Die Themenbereiche sind vielfältig und lassen sich jeweils in verschiedenen Szenarien und Ansätzen für gesellschaftliche Entwürfe bearbeiten.

Lässt sich zum Beispiel der Anteil der Kinder in unserer Gesellschaft durch politische – auch bildungspolitische – und wirtschaftliche Maßnahmen erhöhen? Wie kann oder muss Altersvorsorge heute aussehen? Von diesen Fragen ausgehend lässt sich sehr gut zum Beispiel die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens diskutieren, nicht im Sinne eines Allheilmittels, sondern als Anregung, Einkommen und Arbeit zu entkoppeln und damit auch die jetzige Form der Alterssicherung im Rahmen des Generationenvertrags neu zu denken und eigene Zukunftsmöglichkeiten zu entwerfen.

Ziel der genannten Ansätze und Beispiele ist es, dass die Jugendlichen Älterwerden, Altern und Altsein schon früh­zeitig und altersgemäß ins Bewusstsein heben. Sie können dadurch das eigene Leben – und das anderer – auch als Ganzes in den Blick nehmen, über die Unterschiedlichkeit der einzelnen Lebenslaufphasen hinaus.

Zum Autor:

Dr. Dietmar Müller, FWS Bergisch Gladbach (jetzt nur noch Philosophie, früher auch Deutsch, Geschichte, Sozialwissenschaften und Freier Religionsunterricht); Sprecherkreis der LAG NRW; Alanus Hochschule (wissenschaftliche Begleitung der Waldorf-Berufs­kollegs und Zertifikatsstudiengang »Bürgerschaftliche Kompetenz im Dialog der Generationen«).