Den demographischen Wandel als Chance sehen und gestalten

Hilmar Dahlem

Wir werden nicht nur älter, sondern auch gesünder

Die Bevölkerung Deutschlands wird in den nächsten 40 Jahren laut Statistischem Bundesamt von heute 81,4 Mio. auf 69,4 Mio. im Jahr 2050 zurückgehen. Die Jüngeren werden weniger, ebenso die Menschen zwischen 20 und 64, gleichzeitig wächst die Gruppe der »65+« überproportional. Dazu steigt die Lebenserwartung. Die Zahl der Menschen im Alter zwischen 85 und 100 wird erheblich wachsen. Wir werden nicht nur länger leben, sondern auch gesünder altern. Die verbreitete Annahme, wir würden älter und alles andere bleibe gleich, trifft nicht zu. Wir werden voraussichtlich nicht gleichzeitig kränker oder länger pflegebedürftig (Bundeszentrale für politische Bildung, 2011).

In jedem Falle wird aber der demographische Wandel unsere Gesellschaft erst schleichend und dann immer dramatischer verändern: Lebens- und Arbeitsformen, Rechtsleben, soziale Sicherung, gesellschaftliches Leben – alles wird sich verändern. Das heißt aber noch lange nicht, dass es schlechter werden muss.

Angesichts dieser bevorstehenden Dynamik wird es auch um die Frage gehen, ob Waldorfschulen und andere Einrichtungen, die aus dem Sozialimpuls der Anthroposophie entstanden sind, ihren Anspruch aufgeben, Gesellschaft mitzugestalten. Oder sehen sie diesen Wandel auch als Chance, Impulse in die Gesellschaft zu geben? Können sie den Entwicklungsgedanken, der die soziale Welt als Lern- und Entwicklungsort sieht und den Menschen als den schöpferischen Hervorbringer sozialer Wirklichkeit in den Mittelpunkt stellt, neu beleben?

Der Mensch braucht nicht nur eine materielle, sondern auch eine seelische Altersversorgung

Die erste Frage ist dann die nach dem Zukunftsbild einer menschengemäßen Altersversorgung. Derzeit dreht sich die gesellschaftliche Diskussion vorwiegend um materielle Aspekte: Versorgungslücken, Pflegeproblematik und so weiter. Natürlich ist diese materielle Seite ein wesentlicher Punkt. Kapitalgedeckt oder umlagefinanziert – von zentraler Bedeutung ist, dass im Alter die materiellen Grundlagen für das weitere Leben gesichert sind. Deutlich ist aber auch, dass es über die materielle Altersversorgung hinaus auch um die Frage einer »seelischen Altersversorgung« geht. Es geht um Sinngebung, um die Frage nach einem entwicklungsorientierten, freiheitlichen Menschenbild und ein modernes Altersbild. Es geht um Begegnung, um Dialog und Zusammenarbeit der Generationen, gerade weil traditionelle Rollen­verteilungen nicht mehr tragen. Und es geht darum, füreinander einzustehen und moderne, solidarische Formen der Gemeinschaftsbildung zu finden.

Dieser »seelischen Altersversorgung«, deren Basis natürlich eine tragfähige materielle Altersversorgung ist, liegen andere Gesetzmäßigkeiten zugrunde. Sie lässt sich nicht in Systemen organisieren. Sie erfordert Zukunftsbilder, die die Kraft von Urbildern haben. Sie erfordert individuelle Initiative und die Bereitschaft, doch immer wieder neu mit den Widersprüchlichkeiten und Spannungen zwischen Individualität und Gemeinschaft in konstruktiver Weise zu ringen. Das wird Probleme und Fragen aufwerfen, auf die wir heute noch gar keine Antwort haben können. Wo braucht es System, Standardisierung und wo braucht es Offenheit, Beweglichkeit, Gemeinschaft? Fragen, die uns noch lange begleiten werden, zu denen wir immer wieder neu miteinander Wege finden müssen – und an denen wir lernen können, wie materielle und seelische Altersversorgung zusammenwirken.

Seit über zehn Jahren haben Waldorfschulen gemeinsam mit den Hannoverschen Kassen das Waldorf-Versorgungswerk entwickelt. Es basiert auf einer kapitalgedeckten Versicherung, die eine materielle Grundversorgung der Versicherten gewährleistet. Es ist aber auch Sozialfonds, der – gespeist von den Beiträgen der Mitgliedseinrichtungen –, solidarische Hilfen zur Förderung der eigenen Gesundheit (zum Beispiel in Form von Kuren) sowie Forschungs- und Entwicklungsprojekte zur Mitarbeitergesundheit in den Mitgliedseinrichtungen ermöglicht. Das Waldorf-Versorgungswerk wurde nicht von Versicherungsspezialisten ersonnen, sondern zuerst als ein Akt der Selbsthilfe von Lehrern und Geschäftsführern (natürlich unterstützt von Experten) gegründet. Es mag als Beispiel für soziale Erneuerung gelten und als Anregung für weitere Initiative im Feld einer modernen Altersversorgung für den ganzen Menschen. Kritische Anmerkungen, wie von Benediktus Hardorp, sind für die Weiterentwicklung dieses Modells willkommen (siehe Literaturhinweis).

Das soziale Zusammenleben ist ein Schulungsweg

Soziale Erneuerung erfordert, gerade auch angesichts heraufziehender Turbulenzen, den dunklen Seiten in der eigenen Seele nicht auszuweichen. Sich zum Beispiel bewusst zu machen, dass sich im Zuge der heraufziehenden Veränderungen Existenzängste ausbreiten können. Und auch Egoismus ist eine Kraft, die in jeder Seele wohnen kann. Weil unsere sozialen Formen Schöpfungen aus der menschlichen Seele sind, ist es wichtig, diesen Blick in die eigene Seele in Verbindung zu bringen mit dem Blick auf die sozialen Formen. Nicht wie sie gedacht sind, sondern wie sie wirken, ist entscheidend: Unterstützen sie uns, solidarischen Umgang zu lernen, oder befördern sie Egoismus und Entsolidarisierung? Können wir anerkennen und praktizieren, dass Freud und Leid der Zusammenarbeit in einer Organisation auch ein sozialer Schulungsweg ist? Ausdruck von Etwas, das werden will? Dieses Werden bedeutet immer: Leben in Spannungsfeldern. Zwischen eigenen Idealen oder den Idealen der Organisation und der stets unzureichenden Praxis. Zwischen dem eigenen Ich und den Anderen (die meistens natürlich nicht das tun, was ich mir von ihnen wünsche). Zwischen Gewissheiten der Vergangenheit und Ungewissheiten der Zukunft … All diese Spannungen, Dissonanzen, Widersprüchlichkeiten sind nicht Ausdruck einer ausnahmsweisen Abweichung von der Norm, eines besonders bedauerlichen Defizits oder persönlichen Versagens, sondern sie sind konstitutionell im sozialen Leben, in unserem Arbeitsleben anwesend. Dass diese Phänomene auftreten, ist Ausdruck von Entwicklungsprozessen, in denen Menschen und Organisationen permanent dabei sind, mal mehr, mal weniger schmerzhaft, etwas zu lernen, was sie noch nicht können: Eine Gemeinschaft freier Individualitäten zu werden.

Es geht um einen Schulungsweg im Sozialen. Einen Weg, so der holländische Arzt und Pionier der Organisationsentwicklung Bernard Lievegoed, den man nicht alleine gehen kann, sondern nur in der Gemeinschaft: »Hier ist man angewiesen auf den anderen Menschen, auf Gemeinschaften von Menschen, die zusammen diesen Weg gehen. Es ist nicht so, dass man nichts auf diesem Wege erleben würde, wenn man allein ist, aber man kann das Erlebte nicht festhalten, wenn man es nicht ausspricht, wenn nicht in der Seele des anderen Menschen das Echo des Erlebten ertönt und so erst Besitz des eigenen Ich werden kann.«

Altersarmut – auch bei Waldorf

Zu den dunklen Seiten des sozialen Lebens gehört bereits heute das Thema Altersarmut. Auch an Waldorfschulen. Der Waldorflehrer, der viele Jahre Aufbauarbeit im Ausland leistete und auf das Versprechen vertraute, man werde später auch in Deutschland wieder für ihn sorgen, und nun knapp über dem Existenzminimum lebt. Oder die Gründungs­lehrerin, die familiär gut versorgt schien und deshalb auf Gehalt verzichtete, um sich dann nach einer Ehescheidung im Alter unterhalb des Existenzminimums wiederzufinden – zahlreiche Schicksale in dieser oder ähnlicher Form, die beim Bund der Freien Waldorfschulen oder den Hannoverschen Kassen ankommen, sind sicher nur die Spitze des Eisbergs. Die Scham der Betroffenen einerseits und mangelnde Wachheit in mancher Schulgemeinschaft andererseits sind Tatsachen, denen wir ebenfalls ins Auge sehen sollten, wenn es darum geht, den demographischen Wandel als Chance für moderne soziale Gestaltungen zu sehen. Inwieweit es gelingt, diese Tabus anzusprechen und hier wirksam zu helfen, wird auch ein Prüfstein sein für die praktische Wirksamkeit sozialer Ideale.

Orientierung kann nur das Menschenbild geben

In der Auseinandersetzung mit dem demographischen Wandel geht es nicht um kurzfristige Problemlösungen, sondern um die Frage, wie wir in einem zunächst eher subtilen Prozess des Wandels die Orientierung behalten. Was in der Pädagogik gilt, gilt auch in allen sozialen Gestaltungen: Der wesentliche Orientierungspunkt ist und bleibt das zugrundeliegende Menschenbild. In unseren Handlungen, in unseren Vorgehensweisen spricht sich dieses Menschbild aus. Was ist mein Menschenbild auf dieser Handlungsebene? Was sind die Konsequenzen meines Handelns? Kann ich noch einen Schritt machen, den Anderen als Individualität und Freiheitswesen mit Leib, Seele und Geist in Entwicklung zu sehen und ihn darin zu unterstützen? Das ist natürlich in Waldorf-Zusammenhängen keine wirklich neue Frage, aber es ist eine wirksame Frage, gerade in turbulenten Zeiten. Sie betrifft die Gestaltung von Gehaltsordnungen ebenso wie die Gestaltung von sozialen Absicherungen oder den Umgang zwischen den Generationen. Was fördern oder was behindern unsere sozialen Gestaltungen? Wollen wir es so – oder anders?

Der erste Schritt zu neuen sozialen Formen ist wichtiger als der große Wurf

Dort, wo wir miteinander arbeiten und für andere in unserer ganzen Unterschiedlichkeit jenseits von Tradition und Blutsverwandtschaft zusammenkommen, ist es vor allem wichtig, anzufangen. Der erste Schritt ist wichtiger als die große Lösung. Es geht um das Denken, Handeln und Lernen in Prozessen. Daraus können Wahlverwandtschaften, ungewöhnliche Konstellationen der Zusammenarbeit und des Zusammenlebens entstehen. Beziehungen, in denen wir trotz aller Mühen und Widrigkeiten in praktischen kleinen Schritten etwas füreinander tun. Das erfordert Mut, denn jede menschliche Begegnung, die über die Konvention und Illusion hinausgeht, ist letztlich eine Mutfrage. Und Vertrauen ist dabei nicht etwas, was man organisieren kann, sondern etwas, was man als Wirkung dann langsam und sehr subtil erfahren muss.

»Dass gut werde, was wir aus Herzen Gründen, aus Häuptern zielvoll führen wollen« diese Schlusszeilen des sogenannten Grundsteinspruches von Rudolf Steiner sind durchaus lebenspraktisch gemeint für den sozialen Alltag. Sie sind eine soziale Gesetzmäßigkeit, deren Wesen es ist, dass sie immer stärker wirkt, je mehr man sie praktiziert. Und umgekehrt: Die nicht wirkt, wenn man sie nicht praktiziert. Auch in diesem Sinne bieten die zahlreichen Herausforderungen des demographischen Wandels ein gutes Übfeld für moderne Gemeinschaftsbildung.

Literaturhinweise:

Bundeszentrale für politische Bildung: Aus Politik und Zeitgeschehen, Heft 10-11, Demographischer Wandel, Bonn 2011
Benediktus Hardorp: Soziale Verfasstheit, Einkommensbildung und Altersversorgung der Waldorfschulen, in InfoBrief der Hannoverschen Kassen Nr. 15, Dezember 2006.
Bernard Lievegoed: Schulungswege, Dornach 1992

Zum Autor: Hilmar Dahlem, Jg. 1960, ist ausgebildeter Krankenpfleger, Studium der Sozialwissenschaft und Waldorfpädagogik, heute tätig als Vorstandsmitglied in den Hannoverschen Kassen sowie als Mitglied des Instituts für Mensch- und Organisations­entwicklung in Zeist (NL), www.het-imo.net