Sturmerprobt und biographisch geprüft. Qualitäten des Alterswissens

Harm Paschen

In seinem Buch »Das Methusalem Komplott« sprach Frank Schirrmacher über die Aufgaben, die aus der dramatischen demographischen Entwicklung entstehen. Er rief dazu auf, sich an einem Komplott zu beteiligen, das die traditionelle Herabsetzung der Alten beendet und die Vorstellungen über Altersleistungen verändert.

Alt sollten wir von seiner Etymologie aus dem Gotischen her (alan = wachsen) als erwachsen verstehen. Damit wäre alles andere Wissen zunächst polemisch formuliert unerwachsen, kindlich-jugendlich, naiv, unreif, unbesonnen, aufgeregt angewandt, einseitig und unverantwortlich. Und tatsächlich: Unter Wissen wird heute nicht mehr nur verstanden, was theoretisch fundiert, empirisch geprüft, prognostisch verwendbar und diskursiv ist. Von »Wissen aller Arten, von jeder Menge, Güte und Zusammensetzung« sprach schon der Soziologe Helmut Spinner im Jahr 1988. Bei »aller Arten« ist heute mitzudenken: implizites Wissen, Kunst als nicht-diskursive, präsentische Darstellung von Gefühlen, speziell durch Musik, Körperwissen (embodiment), aber auch Meinungen, Erinnerungen – alles also, was wir können, müssen, sollen, dürfen, mögen. Wir sollten daher von »erwachsenem Wissen« sprechen, das viele heterogene Wissensbestände integrier

Qualitäten des erwachsenen Wissens

Dieses erwachsene Wissen wird vielfach ehrenamtlich angewandt und honoriert. Träger des erwachsenen Wissens werden beansprucht bei familiären Aufgaben wie Kinder hüten, bei Umzügen und Renovierungen, bei sozialen Aufgaben in Vereinen, bei der Betreuung älterer und jüngerer Menschen, bei Beratungen aller Art oder auch als Zeitzeugen. Sie werden ebenso geschätzt als Schlichter in der Politik oder bei Tarifauseinandersetzungen, als Stiftungs­vor­sit­zende und als Verfasser von Autobiographien. Für all diese Tätigkeiten bedarf es spezifischer Wissensqualitäten. Es geht um Wissenserfahrungen, um Erfahrungen mit den unterschiedlichsten Wissensbeständen. »Alterswissen« hat integrative Qualitäten:

  • Es ist biographisch geprüft.
  • Es bedenkt alle möglichen Aspekte (Schicksal und Folgen), »alte« kulturelle Erfahrungen, gelingende und scheiternde menschliche Aktivitäten.
  • Es ist auf das Wesentliche und Einfache gerichtet.
  • Es ist krisen- und sturmerprobt.
  • Es kennt seine Grenzen: Zur Bildung gehört das Wissen um das, was man nicht weiß!
  • Es weiß um seine Endlichkeit: dass es begrenzt gültig, seine Vermittlung schwierig, die Akzeptanz ungewiss und es am Ende vergeblich ist.
  • Es kann bescheiden, human und integer sein.

Als erstes Fazit sei festgehalten:

Vorhaben ohne Infusion von Alters-Wissen, von erfahrenem Wissen Erwachsener, drohen zu scheitern. Aber ist Alterswissen auch wirksam und wie kann es wirksam werde

Erwachsenes Wissen ist ein »Wissen-um«

Beim Alterswissen geht es um das Wissen von einem besonderen Umgang mit Wissensbeständen. Ich nenne dieses erfahrene, kontextuelle Wissen daher »Wissen-um« (etwas). Es zeigt sich zum Beispiel im Wissen

  • um die Verletzlichkeit, Hinfälligkeit von Menschen, Prozessen, Absichten,
  • um die Zerbrechlichkeit von Menschen, Zuständen, Verhältnissen,
  • um falsches oder wirkliches, selbst erlebtes, erfahrenes Wissen
  • um Vermittlungsschwierigkeiten.

Man kann vermuten, dass dieses »Wissen-um« eine Voraussetzung für Weisheit ist, dass es dieses »Wissen-um« aber auch ohne Weisheit gibt, dass Weisheit zu »vermitteln« Vermittlungs-Weisheit erfordert. Zum erwachsenen Wissen-um gehört aber auch: Die Kenntnis der entscheidenden Differenz zwischen »objektivem Wissen« und einem Wissen darum, was wirklich wirkt. Nicht ich finde etwas – es ist ein Einfall, der mich sucht und beauftragt; die Dinge verlangen selbst ihre Vervollkommnung durch den Menschen, ich überzeuge als Zeuge dessen, was selbst wirksam ist. Es geht also darum, wie gelerntes Wissen zu wirklichem Wissen wird. Es geht darum, Aufgaben wahrzunehmen und damit individuelle Erfahrungen zu machen – nicht um objektives abstraktes Wissen.

Das folgende Beispiel, das eine Studentin erzählt, zeigt eine Vielfalt von Aspekten des erwachsenen Wissens: »Ich hatte in Freiburg eine Zusage für einen Studienplatz und bin dort hin gefahren, um mich zu immatrikulieren und mir ein Zimmer zu suchen. Übernachtet habe ich in einem Hostel und dort habe ich eine 40-jährige Frau kennen gelernt, mit der ich abends gegessen habe. Ich habe ihr erzählt, dass ich nicht wisse, ob ich diesen Studienplatz annehmen solle und habe meine Bedenken darüber geäußert, was alles passieren könnte, wenn ich diesen Platz annehmen würde und auch wenn ich ihn nicht annehmen würde. Diese Gedanken haben sich auf Zeiträume von mehreren Jahren bezogen. Diese Frau hat mir geantwortet, in dem sie fragte: ›Woher willst du wissen was in vier Jahren sein wird, wenn du nicht mal weißt, was du morgen machen wirst?‹ Diese Aussage hat mich wie ein Faustschlag in den Bauch getroffen, da sie Recht hatte.« (Jana Kuhlmann)

Deutlich ist, dass das Wissen der älteren Frau um die fragende, aufgabenstellende Situation, um Notwendigkeit des Eingriffs, um inhaltlich angemessenes und hilfreiches Antworten ein Wissen-um voraussetzt, um wirksam zu werden.

In einem weiteren Schritt kann man das erwachsene Wissen als Vergeistigungsprozess verstehen. Durch die Erfahrung mit Wissensbeständen entsteht eine Verinnerlichung vieler Welten, Aspekte und Stimmen, Muster und Strukturen. Sie bilden sich zu einem Repertoire, einem Schatz wirksamen Wissens für einen adäquaten Umgang mit den Dingen, der Welt und anderen Menschen.

Als wichtige Funktionen des erwachsenen Wissens sind zu nennen: die Vertiefung von individuellen und kollektiven Identitäten, die Entlarvung der Falschheit des gewöhnlichen Denkens oder seine Ergänzung, Kompensation, das Auflösen von Aporien (siehe die Erfahrung der Studentin), das Bewusstsein von der Dialektik, die allen Dingen innewohnt (das Gegenteil ist auch immer richtig), das Ertragen der Ambiguität und Absurdität, das Brechen der Vorherrschaft der Systeme des Alltags, von Gewohnheitsdenke

Vorbilder vermitteln erwachsenes Wissen

Wenn es Alterswissen gibt, dann muss man es zu seiner Vermittlung und Anwendung auch einsetzen können.

Frank Schirrmacher hat ein Komplott der Betroffenen angeregt und radikale Taktiken vorgeschlagen, um das Alterswissen zur Geltung zu bringen: »Wir müssen Selbst­- verteidigungsstrategien entwickeln, Methoden alternativer Kriegsführung, die es einem erlauben, auch als schwacher Alter zu überleben: von der Partisanentätigkeit bis zum Hackerangriff.« Es geht aber auch anders und wohl besser. Was die Vermittlung erschwert, sind die Adressaten: Bei Jungen kann man die dazu gehörigen Erfahrungs-Einsichten nicht voraussetzen. Bei Älteren, Erwachsenen steht das eigene Wissen im Weg – sie diskutieren, kritisieren das erwachsene Wissen der anderen. Es muss pädagogisch daher in einer Weise vermittelt werden, die den Adressaten mit einbezieht, es ihm freistellt, dieses Wissen selbst zu erfahren. Also als indirekte Lehre.

Uns stehen dafür traditionelle Formen zur Verfügung, deren Inhalte aber immer nur individuell, persönlich situativ wirksam sein können, nicht müssen. Die Folgenden haben sich in meinen Veranstaltungen dazu oft wirksam gezeigt.

Authentizität: »Ich habe es selbst leidend, erfolgreich erlebt, erfahren.« Wir können auch auf die eigene Kompetenz verweisen: »Ich kann es.« Es bieten sich das Gleichnis und die Metapher an – da man beide nur versteht, wenn die Zuhörer sich selbst in das Gleichnis als Gleichnis versetzen können, wie in Platons Höhlengleichnis. Darüber hinaus Konfron­tation, Kritik und Warnung: Ein Beispiel ist der Chor in der griechischen Tragödie in seiner mahnenden Funktion. Die Mahnung erinnert an die Endlichkeit, die Eitelkeit des Irdischen, wie Salomon der Prediger oder Gryphius in seinen Gedichten, die sehr gut zur heutigen Lebensstimmung passen. Altersweisheit erinnert an das »Respice finem«, »Bedenke das Ende«. Schließlich weist sie auf Defizitäres hin, auf Sinnfragen – auch auf Umfassendes, Ganzheitliches, Geistiges, wie es heute von vielen, auch jungen Menschen vermisst wird.

Zum Schluss ein Beispiel für eine Vermittlung erwachsenen Wissens nach Henry Nouwen, einem katholischen Priester und Schriftsteller. Es mag für das erwachsene Wissen der Zukunft stehen, das durch Wandlungen und Grenzüberschreitungen gekennzeichnet ist. Es muss metaphorisch gleichnishaft gelesen werden: für jede Metamorphose, jeden Übergang von einer geistigen Welt in eine andere, von einer Wissensart in eine andere, nicht zuletzt theologisch. Das zeigt das folgende »Gespräch«:

Gespräch der ungeborenen Zwillinge

Glaubst Du eigentlich an ein Leben nach der Geburt?

Ja, das gibt es. Unser Leben hier ist nur dazu gedacht, dass wir wachsen und uns auf das Leben nach der Geburt vorbereiten, damit wir stark genug sind für das, was uns erwartet.

Blödsinn, das gibt es doch nicht. Wie soll denn das überhaupt aussehen, ein Leben nach der Geburt?

Das weiß ich auch nicht genau. Aber es wird sicher viel heller als hier sein. Und vielleicht werden wir herumlaufen und mit dem Mund essen?

So ein Unsinn! Herumlaufen, das geht doch gar nicht. Und mit dem Mund essen, so eine komische Idee. Es gibt doch eine Nabelschnur, die uns ernährt. Außerdem geht das Herumlaufen gar nicht, die Nabelschnur ist ja jetzt schon viel zu kurz.

Doch, es geht ganz bestimmt. Es wird eben alles ein bisschen anders.

Es ist noch nie einer zurückgekommen von nach der Geburt. Mit der Geburt ist das Leben zu Ende. Und das Leben ist eine Quälerei und dunkel.

Auch wenn ich nicht genau weiß, wie das Leben nach der Geburt aussieht, jedenfalls werden wir dann unsere Mutter sehen, und sie wird für uns sorgen.

Mutter? Du glaubst an eine Mutter? Wo ist sie denn bitte?

Na hier, überall um uns herum. Wir leben in ihr und durch sie. Ohne sie können wir gar nicht sein!

Quatsch! Von einer Mutter habe ich noch nie etwas bemerkt, also gibt es sie auch nicht.

Doch, manchmal, wenn wir ganz still sind, kannst Du sie singen hören. Oder spüren, wenn sie unsere Welt streichelt …

Spürst du nicht ab und zu diesen Druck? Das ist doch immer wieder ganz unangenehm! Manchmal tut es sogar richtig weh!

Ja, aber was soll das schon heißen?!

Ich glaube, dass dieses Wehtun dazu da ist, um uns auf einen besseren Ort vorzubereiten, wo es viel schöner ist als hier, und wo wir unsere Mutter von Angesicht zu Angesicht sehen werden. Wird das nicht aufregend sein?

Schon Luther hat Geburt und Sterben mit dem gleichen Bild erschlossen wie Nouwen. Die Vermittlung von erwachsenem Wissen erfordert überall drei persönliche Qualitäten:

Mut: nämlich Demut, – das Bewusstsein nur ein Zeuge, kein Produzent zu sein. Furcht: nämlich Ehrfurcht, vor der nicht eigenen Wirksamkeit. Selbstlosigkeit: Weil es nicht um mich, sondern um Erfahrungen von etwas Anderem geht.

Dann wird man möglicherweise empfänglich, so dass Einfälle, Ideen, Bilder, Gestalten, Strukturen sich einfinden, weil sie erwartet, freundlich empfangen, bewirtet und wirksam werden, so dass sogar ängstliche, tabuisierte, verfemte unter ihnen es wagen, zu kommen. Und so kann man andere dafür empfänglich machen, sie aufschließen – so dass die Einfälle selbst wirksam werden können durch mich.

Literatur:

Harm Paschen: Alternative zur Besserwisserei – Qualitäten des Alterswissens, in: B. Dorst / C. Neuen / W. Teichert (Hrsg.): Wissen und Weisheit – interdisziplinär, Ostfildern 2010, S. 127-140.
Trudi Müller Blau: Wenn Wissen in Pension geht. Fokus Schule: Wissenserhalt im Generationswechsel, Baltmannsweiler 2009
Harm Paschen: Zur Entwicklung menschlichen Wissens. Die Aufgabe der Integration heterogener Wissensbestände, Münster 2005
Frank Schirrmacher: Das Methusalem-Komplott, München 2004

Anmerkung: Dieser Beitrag ist eine redaktionell überarbeitete, vom Autor begrüßte Fassung einer ursprünglich längeren Ausführung zum Thema.