Angst vor dem Tod?

Günther Dellbrügger

In unseren Tagen scheint sich eine Umkehr anzubahnen. Der Gedanke des Weiterlebens nach dem Tod wird für immer mehr Menschen zu einer Selbstverständlichkeit. Den Gedanken der Präexistenz (Leben vor der Geburt) dem des Weiterlebens nach dem Tode hinzuzufügen, ist ein wichtiger Kulturimpuls Rudolf Steiners und der Waldorfpädagogik. Die Tore von Geburt und Tod beginnen sich wieder zu öffnen.

Das Leben des Menschen kann wie ein Komet erlebt werden: Aus dem Unsichtbaren kommend erscheint er, existiert eine Zeitlang im Sichtbaren, bis er dann wieder für uns verschwindet. Schaue ich mit einem solchen Blick auf das Kind, den Jugendlichen, begegne ich ihm mit der stillen Frage: »Woher kommst du? Wohin wirst du gehen?«, ergibt sich daraus der Auftrag, dem jungen Menschen bei der Verwirklichung seiner Intentionen, dem was er zwischen Geburt und Tod zur Erscheinung bringen möchte, beizustehen – was immer das sei. Was verstehen wir aus einer solch weiten Perspektive heraus unter »Leben und Tod«. 

Geburt und Tod im Leib

In dem Grimmschen Märchen vom »Gevatter Tod« tritt der Tod als Helfer des Menschen auf. In einer armen notleidenden Familie, der ein dreizehntes Kind geboren wird, übernimmt er die Patenschaft. Als das Kind heranwächst, gibt ihm sein Gevatter das eigentliche Patengeschenk, ein Heilkraut, das ihn zum berühmtesten Arzt der Welt machen wird. Der Tod erklärt dem Knaben: Wenn dieser als Arzt zu einem Kranken gerufen werde, so werde er, der Tod, auch da sein. Stehe er zu Häupten des Kranken, so könne er ihn mit dem Wunderkraut heilen, stehe er aber zu dessen Füßen, so sei alle Hilfe umsonst. Und es wirkt! Der Jüngling wird zum weltberühmten Arzt.

Hier ist ein Bild für die Tatsache, dass in jedem Menschen zwei Grundprozesse gleichzeitig vorhanden sind und zusammenwirken. Im Haupt und in den Sinnen überwiegen Todesprozesse und ermöglichen uns Wahrnehmung, Bewusstsein, waches Denken. Da ist der Tod am rechten Platz! Überwiegen diese Prozesse aber in den Organen des Stoffwechsels und der Gliedmaßen, führen sie zum Tod des Menschen.

Auf dem Gebiet der Physiologie spricht man sogar von einem »gesunden Tod«! Denn auch im Leben der einzelnen Zellen, aus denen unsere Organe, Muskeln, unser gesamter Organismus aufgebaut sind, ist der Tod unser Helfer. Die Physiologie spricht von »Apoptose«, dem »programmierten Zelltod« (Holtmann), ohne den wir gar nicht existieren könnten. Denn durch das geordnete Absterben von Zellen entledigt sich der Organismus defekter oder einfach überschüssiger Zellen. Der erwachsene Mensch hat 25.000.000.000.000 rote Blutkörperchen. Aber er bildet im Knochenmark jede Minute 160.000.000 neue! Würden wir nicht zugleich ebenso viele rote Blutkörperchen abbauen, würden wir platzen. Die Apoptose zeigt sich als lebensfördernder Prozess: Die sterbenden Zellen werden vom Organismus aufgenommen, verdaut und dadurch unschädlich gemacht. Im Unterschied zur Apoptose, dem »guten Tod« (Novalis: »Du bist der Tod, du machst uns erst gesund«) spricht die Physiologie von Nekrose als einer pathologischen Form des Zelltodes. Sie wird durch Verletzung der Zellen hervorgerufen. Die Zellen schwellen an und reißen auf, schädliche Stoffe werden freigesetzt, können nicht verdaut werden, führen zu entzündlichen Prozessen und schädigen den Organismus. Dies zeigt uns: Auf der Ebene des Leiblichen gibt es sinnvolle, aber auch zerstörerische Todesprozesse.

Bilder des Lebens und Todes

Gehen wir auf die Ebene des Seelisch-Geistigen über, so finden wir etwas ganz anderes. Hier gibt es keine Konstanten, wie sie in jedem menschlichen Organismus wirken, sondern hier findet fortdauernder Wandel statt. Wir wollen uns an einigen Beispielen aus der Kulturgeschichte veranschaulichen, wie Menschen früherer Kulturen über Geburt, Leben und Tod gedacht und empfunden haben.

Bhagavad Gita

Aus der alten Menschenkultur ist die Bhagavad Gita überliefert, eine berühmte heilige Schrift der Inder. In diesen Gesängen von weisheitsvoller Sprache heißt es über Geburt und Tod, dass dies nur Übergänge sind, dass aber das Menschenwesen sowohl vor der Geburt existiert als auch über den Tod hinaus lebt. Der Dichter der Bhagavad Gita fasst sein Erleben in folgendes Bild: »So wie der Mensch abgetragene Kleider abwirft, und neue andere ergreift, so wirft das im Leibe Verkörperte die abgetragenen Hüllen ab und geht in andere neue hinein.« Im Gegensatz zu unserer heutigen Todesfurcht und Tabuisierung spricht aus diesen Worten eine große Gelassenheit und Ruhe. Mag das Kleid zerschlissen, der Leib verbraucht sein und sterben. Ich als Mensch bin ewig, wandere weiter. Hier kommt zum Ausdruck, dass der Mensch von seiner leiblichen Sterblichkeit wissen und zugleich sich seiner geistigen Unsterblichkeit sicher sein kann.

Ägyptisches Totenbuch

In der ägyptischen Kultur wird das Leben als Geschenk der Sonnengottheit erlebt, die ihre Fahrt über den Himmel vom Morgen bis zum Abend vollzieht, in die Nacht hineinstirbt, um am Morgen wieder aufzuerstehen. Aus dieser mythischen Weltsicht wurde die Einheit von Leben und Tod in dem realen Symbol der Sonne erlebt. Aber in und nach dem Tode brauchte das schon schwächer werdende menschliche Bewusstsein Hilfe und Stütze. Das ist der Grund für die Mumifizierung von Verstorbenen. An ihrem Leib sollten die verstorbenen Seelen wie an einem Spiegel erwachen und sich auch ohne Leib als Ich erleben. Das »Ägyptische Totenbuch« beschreibt den Weg der Seele im Nachtodlichen in Form von Bildern. Viele Bilder stellen den Beginn dieses Weges so dar, dass das Herz des gerade Verstorbenen von höheren Wesen auf eine Waage gelegt wird. Ob es das rechte Gewicht, den rechten inneren Wert hat, entscheidet über den nachtodlichen Weg der Menschenseele. Für den Ägypter wird im Tode das Herz des Menschen gewogen.

Odyssee

In der griechischen Epoche zur Zeit Homers (8. Jh. v. Chr.) wird deutlich, dass die Menschen sich immer weiter von der göttlichen Welt entfernt fühlen. Anders gesagt: Es sind Initiationswege notwendig, um sich das Heimatrecht in der göttlichen Welt zu erwerben. Ein solcher Initiationsweg ist die Odyssee. Hinter der Beschreibung einer äußeren Reise verbirgt sich ein Einweihungsgeschehen. Odysseus hat schon im Leben ein inneres Todeserlebnis. Im 11. Gesang der Odyssee wird seine Fahrt in das Reich der Verstorbenen erzählt. Das Licht des Geistes scheint dort erloschen. Die Seelen erleben sich als Schatten und wissen um die Schemenhaftigkeit der nachtodlichen Existenz. Als Odysseus den verstorbenen Achill, den großen Helden im irdischen Kampf trösten will, entgegnet ihm dieser: »Preise mir jetzt nicht tröstend den Tod, ruhmvoller Odysseus. Lieber möchte ich als Knecht einem andern dienen im Taglohn, einem dürftigen Mann, der selber geringen Besitz hat, als hier Herrscher sein aller abgeschiedenen Seelen.«

Die allmählich immer stärkere Bindung an das Irdische hat der Seele den angeborenen Glanz göttlicher Herkunft genommen. Das Leben nach dem Tod wurde immer wesenloser, ohne Freude, ohne Erfüllung. Bezeichnenderweise ist es der blinde Seher Teiresias, der unter den Verstorbenen sehend ist und durch seine eigene Geistigkeit leuchtet! Er erscheint mit goldenem Stab, ein Bild göttlich erfüllter Ichkraft: Ihm gab Persephoneia im Tode selber Besinnung. Er allein nur denkt, die anderen sind schwankende Schatten. Der Seher Teiresias partizipierte an dem Licht, das nur noch durch die alten Mysterien erreichbar war. Das neue Mysterium ist die Menschwerdung Christi und seine Überwindung des Todes.

Zeitenwende

Das Mysterium von Golgatha liegt vor aller Religion, auch vor der christlichen Religion. Es ist eine Licht-Tat für alle Menschen, für die Menschheit. Aus diesem neuen Leben ist ein Strom geflossen, aus dem sich die verschiedenen christlichen Religionen und Konfessionen gebildet, aber auch schon bestehende Religionen auf geheimnisvolle Weise verändert und verwandelt haben. Auf dieses Urereignis der Menschheitsgeschichte hat Rudolf Steiner unermüdlich hingewiesen als allen Bekenntnissen vorausliegende Tatsache, die in dem Thema »Leben und Tod« ein völlig neues Kapitel in der Menschheitsgeschichte aufgeschlagen hat.

Mittelalter

Vor gut tausend Jahren, in der Zeit des frühen Mittelalters, spricht man vom »zahmen Tod«, der in einer Mischung von Resignation und mystischem Vertrauen erwartet wird. Das Sterbe-Ideal ist das einer ruhigen Erwartung des Todes in einem Ritual, das von dem Sterbenden selbst als eine öffentliche Zeremonie geleitet wird. Die Ruheplätze der Toten werden in das Alltagsleben integriert, Lebende und Tote koexistieren. Der Tod gehört zum Leben und wird in der »ars moriendi« (Kunst des Sterbens) geübt.

Der Beginn einer neuen Perspektive

Der historische Überblick über die sich wandelnde Einstellung der Menschen zu Leben und Tod kann uns anregen, bewusster unsere eigene Einstellung zu finden und zu leben in einer Zeit, in der alles möglich ist, aber auch nichts mehr von allein geht. An der Tatsache des Todes kommen wir nicht vorbei, die Frage ist einzig, wie wir uns als Menschen dazu verhalten. Leben und Tod sind Grundgegebenheiten unseres Menschseins. Und doch tun wir uns schwer, sie konkret zu definieren. Beginnt das Leben mit der Empfängnis oder mit der Geburt, dem ersten Atemzug? Und endet das Leben mit dem Tod? End-gültig? Ist danach nichts? Oder geht es weiter, nur eben anders?

In krassem Gegensatz zum Mittelalter sind im 20. Jahrhundert die Entpersönlichung des Todes im Krankenhaus – auch die Geburt wird mehr und mehr wie eine Krankheit behandelt –, die Passivität des Sterbenden und die Ausgliederung des Toten aus der Gesellschaft zur Regel geworden. Dazu hat sich als ein wachsender Gegenimpuls die Hospizbewegung herausgebildet, die Einrichtungen schafft – auch ambulant –, die Kranken und Sterbenden ein würdiges Leben bis zuletzt ermöglichen. Hier wird nicht nur auf den Leib des Menschen geschaut, sondern auf den ganzen Menschen, der als Individualität geachtet wird. Dem Bewohner wird von den Pflegenden mit Achtung, Wärme und Interesse begegnet. Die innere Pflegehaltung findet ihren Ausdruck in dem Leitsatz der Gründerin der modernen Hospizbewegung Cicely Saunders: »Sie sind wichtig, weil Sie eben Sie sind. Sie sind bis zum letzten Augenblick Ihres Lebens wichtig, und wir werden alles tun, damit Sie nicht nur in Frieden sterben, sondern auch bis zuletzt leben können.«

Dem Geist nach verwandt entwickelte sich in den letzten Jahrzehnten die Palliativmedizin, die individuell abgestimmte Schmerztherapien anwendet (pallium, lateinisch, »der Mantel«). Eine solche Therapie ermöglicht es dem Kranken, sich den Schmerzen besser gewachsen zu fühlen und dadurch einen inneren Freiraum zu gewinnen. Ein Vorkämpfer der Palliativmedizin in Deutschland ist Gian

Domenico Borasio, der die Ansicht vertritt, dass der Mensch für die Vorgänge von Geburt und Tod von der Natur gut ausgestattet ist. Deswegen sollten wir diese Prozesse möglichst wenig stören, sondern helfen, dass jeder darin seinen individuellen Weg findet. Cicely Saunders nannte das erste Haus, das sie 1967 mit anderen für Sterbende gründete, »Christopher’s Hospice« nach der Legende vom Soldaten Offerus, der zum Christ-Offerus, zum Christus-Träger wird. In dieser Namensgebung kommt zum Ausdruck, dass sie ihre eigene Arbeit im Dienste des Christus-Impulses verstanden hat.

Der Geist der Waldorfschule

Im gleichen Sinn sprach auch Rudolf Steiner vom »Geist des Christentums«, ja dem »Geist des Christus«, der in aller Erziehungskunst leben möge. Die Waldorfschule hat er für die Zukunftsideale der Menschheit gegründet. Zum Abschluss des ersten Schuljahres der Waldorfschule in Stuttgart sprach Steiner dies auf folgende Weise aus:

»Noch etwas möchte ich heute sagen … Das ist dasjenige, was ich nennen möchte: Der Geist der Waldorfschule! Er soll wieder zur echten Frömmigkeit ausbilden. Es ist im Grunde genommen der Geist des Christentums, der durch unsere Räume weht, der von jedem Lehrer ausgehend, zu jedem Kinde hingeht … Dieser Geist, der von Liebe, von wahrer Menschenliebe durchweht ist.«

Diese Worte fallen aus dem heutigen Sprachgebrauch heraus, und doch liegt in ihnen eine neue Perspektive und ein neuer Beitrag für die ewige Frage des Menschen nach Leben und Tod. Sie sprechen deutlich eine Hoffnung aus, die heute Menschen in aller Welt und in den verschiedensten Kulturen in sich tragen: dass das Leben und die ganze Zivilisation auf neue Weise aus den großen menschheitlichen und im überkonfessionellen Sinne christlichen Idealen getragen und gestaltet werden möge. Aus diesem Geiste heraus dankte Rudolf Steiner in der schon genannten Ansprache den Schülern (!) »im Namen des Geistes der Menschheit, den wir versuchen zu pflegen in unserer ganzen geistigen Bewegung«. Er dankte für alles, »was Ihr geleistet habt für die Zukunftsideale der Menschheit«.

Leben und Tod, Geborenwerden und Sterben erscheinen mit solchen Gedanken in einem neuen Licht. Saint-Exupéry spricht es auf seine Weise so aus: ›Hast Du Angst vor dem Tod?‹ fragte der kleine Prinz die Rose. Darauf antwortete sie: ›Aber nein. Ich habe doch gelebt, ich habe geblüht und meine Kräfte eingesetzt, soviel ich konnte. Und Liebe tausendfach verschenkt, kehrt wieder zurück zu dem, der sie gegeben. So will ich warten auf das neue Leben und ohne Angst und Verzagen verblühen.‹

Zum Autor: Dr. Günther Dellbrügger ist Pfarrer der Christengemeinschaft in München. Zusammen mit der Biographieberaterin Gabriele Endlich bietet er Seminare zum Thema »Haben wir Worte für unsere Toten?« – Unsere Beziehung zum Sterben und zu den Verstorbenen. Termine: 25.–27.1.13, 1.–3.11.13, 31.1.–2.2.14; www.HausFreudenberg.de, Tel. 0 81 51/1 23 79

Literatur: Martin Holtmann: Stirb’ und Werde – Nachtgedanken zur Apoptose, Vortrag vom 28.6.1997, Manuskriptdruck | Antoine de Saint-Exupéry: Der Kleine Prinz, Düsseldorf 1998 | Gian Domenico Borasio: Über das Sterben, München 2011 | Rudolf Steiner in der Waldorfschule, Ansprachen für Kinder, Eltern und Lehrer, GA 298, Dornach 1980 | Frank Teichmann: Die ägyptischen Mysterien, Stuttgart 1999