Vom »Stirb und Werde« im Lernen

Claus-Peter Röh

Das Mysterium des »Stirb und Werde«, das Verwandeln des Gewordenen in etwas Werdendes, bildet den täglichen Kern der Waldorfpädagogik: Wie finde ich als Lehrer aus dem heutigen Unterricht mit all seinen Begegnungen und Erlebnissen den Impuls zur Verwandlung?

Manchmal wird es einem schon mitten im Unterricht bewusst: Dahin muss der nächste Schritt morgen führen. Das ergibt die Möglichkeit, diesen neuen Schritt vorausgreifend zu formen. Was man zuvor geplant hat, fällt beiseite, wie die absterbende Schale einer reifen Frucht, die das Innere freigibt.

Oft ist der Impuls zur Wandlung jedoch viel untergründiger und  umkämpfter: Während des Unterrichtens ist zum Beispiel nur halb bewusst eine Art Widerstand bemerkbar, als würde die ganze Klasse durch die Arbeit wie »gegen den Strich gekämmt«. In der Rückschau auf die Stunde beginnt das Fragen nach den Gründen: War es das methodische Vorgehen, das diesen Widerstand hervorrief? War es der Inhalt? Ruft das überreif gewordene Thema nach einem Abschluss und nach einer Art »Sterbehilfe«, damit Neues möglich wird?

Entscheidend ist, ob diese Fragen so bewegt werden, dass ein neuer Punkt der Freiheit im Handeln erreicht wird: Nicht jeder erlebte Widerstand darf zu einem Methoden-Wechsel führen. Beharren wir als Lehrer aber auf der vorherigen Planung, kann sich der Widerstand so schmerzlich steigern, dass ein sofortiger neuer Griff oder ein Neubeginn unumgänglich wird. Im Falle einer solchen »Sturz-Geburt« bricht die notwendige Veränderung von außen durch die zu fest gewordene Schale des Geplanten und Gewordenen.

Blickt man im Nachhinein auf eine solche Dynamik, ist zu erkennen, dass das Zukünftige schon im Verwandlungsprozess anwesend ist. Das führt zu der Frage, in welcher Weise wir als Lehrer diese Kräfte, die das Neue herbeiführen wollen, wahrnehmen lernen.

Im Unterricht strömen offensichtlich immer Vergangenes und Künftiges zusammen, aber ich begegne als Lehrer auch mir selbst: Wenn ich für die Begegnungen im Unterricht aufmerksam werde, wenn ich die Weisheit, die im Leben der Klassengemeinschaft waltet, achte, dann kann in mir eine Offenheit entstehen, die das »Lesen« in dem, was mir entgegenkommt, ermöglicht. Auch in der Rückschau auf den Unterricht sich selbst wie von außen ansehen, kann eine Fähigkeit bilden, durch das absterbende Bild des Gewordenen hindurch Zukünftiges zu erkennen.

Diese Wandlungsfähigkeit war für Steiner die entscheidende Qualität des Waldorflehrers: »Es erwächst Dir eine gewisse Kraft, indem Du mit den Kindern zusammen arbeitest … man geht als ein ganz anderer aus der Kampagne hervor, als man vorher hineingegangen ist … Also denken Sie, ich muss das Paradoxon vor Sie hinstellen, dass Sie dann gut unterrichtet haben, wenn Sie das nicht gewusst haben, was Sie am Ende des Jahres gelernt haben … Im Leben hat nicht das fertige Wissen einen Wert, sondern die Arbeit, die zu dem fertigen Wissen hinführt.«

Sterben und Geborenwerden im Lernen

Dieses Vergehen und Entstehen im Unterrichtenden selbst ist eng verflochten mit einem Sterben und Geborenwerden, das auch die Schüler täglich mit den Inhalten und Themen erleben. Wenn sich ein junger Mensch so tief mit einem Inhalt verbinden kann, dass er in diesem und dieser in ihm ganz auflebt, erfasst er auf diesem »Weg des Willens« die Lebendigkeit des Themas. Er verbindet sich mit erfrischenden, aufbauenden Kräften, indem er als »ganzer Mensch« seelisch aktiv und tätig ist. – Tritt er dagegen Schritt für Schritt aus dem »vollen Leben« zurück und beginnt das Thema im vorstellenden Denken zu betrachten, so kann er die äußere Form, den Begriff, die Zusammenhänge mit anderen Erscheinungen und am Ende vielleicht das Gesetz  des Themas erfassen. Die Aufbaukräfte des Willens aber sterben auf diesem Weg des Reflektierens bis zur Gerinnung in Begriffe und Gesetze.

Wie die Ströme dieses Auflebens und Absterbens sich begegnen, können wir an einem berühmten Erzähler studieren, der auch Historiker war. In seinem Werk »Magellan« versteht es Stefan Zweig, in vielen Szenen mit dem Leser in das unmittelbare Erleben der Seefahrer einzutauchen. Hier und jetzt spielt sich Weltgeschichte ab:

»Die beiden Schiffe Magellans, die ›Trinidad‹ und die ›Victoria‹ beginnen die Vorderbucht rund zu umfahren. … Jählings frischt der Wind auf, wird zum Sturm und bald zu einem jener plötzlichen Orkane, wie sie häufig in dieser Gegend aufspringen. … Im Nu schäumt die Bucht in weißem und wildem Quirl, losgerissen werden schon bei dem ersten Aufschwall die Ankertaue; mit eingezogenen Segeln müssen sich die beiden Schiffe wehrlos umhertreiben lassen. – Glück nur, dass sie der hartnäckige Sturm nicht an die Klippen schleudert. Einen Tag, zwei Tage dauert diese entsetzliche Not. … Aber die beiden anderen Schiffe, … sie muss der Sturm in der inneren Bucht erfasst haben, im Engpass …«

In dem Augenblick, in dem der Autor als Historiker Abstand nimmt, um Fragen und Gedanken zu entwickeln, muss dieses unmittelbare, volle Miterleben durch einen Todesprozess gehen. Nicht mehr die farbige Lebendigkeit von Adjektiven und Verben, sondern Überschau und Kausalität sind nun gefragt. Entsprechend sachlich ist die Sprache:

»In dieser einen Frage erschöpft sich also das eigentliche Geheimnis in der Geschichte Magellans: … Denn wir wissen heute genau, was Magellan nicht wusste: Jene Seeleute der unbekannten portugiesischen Expedition sind in Wirklichkeit nie an die Magellanstraße herangelangt, und ihre Berichte ein Missverständnis, ein leicht begreiflicher Irrtum gewesen. … Dass also jene Piloten … tatsächlich den Riesenstrom [den La Plata, Anm. Autor] mit einer Meerenge verwechselten, dafür geben jene nach ihrer Aussage gefertigten Karten den besten Beweis.«

Im weiteren Prozess der Versachlichung und Gerinnung bleibt vom Geschehen und von der Gedankenbewegung noch ein Satzrest in der Zeittafel:

Einfahrt der Flotte in die Magellanstrasse – 25. Oktober 1520

Geronnene Begriffe am Todespol

In der Wikipedia-Enzyklopädie finden sich – fernab von allem Leben – nur noch geronnene Fachbegriffe, Zahlen und Fakten:

Magellanstraße (lat. Fretum Magellanicum) – Meerenge zwischen dem südamerikanischen Festland und der Insel Feuerland. Länge: 570 Kilometer bzw. 310 Seemeilen. Geographische Lage: 53° S, 71° W

Im reflektierenden, abspiegelnden Denkens zeigen sich vier Qualitätsstufen des wachsenden Abstandnehmens vom Lebenspol bis hin zu den geronnenen, toten Begriffen:

Wollen wir uns in der gegensätzlichen Richtung mit dem aufbauenden Lebenspol verbinden, so sind wir als ganzer Mensch gefordert, Willenskraft, Hingabe und Phantasie zu entwickeln, um am Ende die volle Lebendigkeit einer Erzählung oder einer künstlerischen Darstellung zu erreichen. Im zweiten und dritten Vortrag der Allgemeinen Menschenkunde stellt Rudolf Steiner den Strom des Absterbens (blau) dem Strom des Neuwerdens (rot) in einer Skizze gegenüber:

Im dritten Vortrag folgt ein ergänzender Gesichtspunkt: »Wenn Sie noch so schöne Naturgesetze erfahren, die mit Hilfe des Verstandes, mit Hilfe der vorstellenden Kräfte gefunden sind, so beziehen sich diese Naturgesetze immer auf das, was in der Natur abstirbt. Etwas ganz anderes, als diese Naturgesetze, die sich auf das Tote beziehen, erfährt der lebendige Wille, der keimhaft vorhanden ist, wenn er sich auf die Natur richtet.«

Individuelle Neu-Schöpfung zwischen Leben und Tod

Diese Gegenüberstellung ist von entscheidender Bedeutung für die Pädagogik: Wenn wir im Unterricht einseitig die reflektierende Gedankenseite betonen, dann verbinden sich die Kinder mit ihrem gesamten Organismus, mit ihren lebendigen Wachstumskräften einseitig mit der abspiegelnden, absterbenden Seite der Themen. Aus diesem Grund wird in der Waldorfschule besonders bei den jüngeren Schülern zunächst ein reiches künstlerisches Schaffen entwickelt, das in Phantasie und Bildhaftigkeit die aufbauenden Lebenskräfte zur Wirksamkeit bringt. Schwingt dann nach getaner künstlerischer Arbeit das innere Pendel zur Betrachtung, zum Erkennen und zur Erinnerung hinüber, tragen die gefundenen Worte und Begriffe die Lebendigkeit des vorherigen aktiven Schaffens in sich. So ist es möglich, im Unterricht lebendige Begriffe zu bilden, die nicht vom Todespol des faktischen Wissens eingefroren werden, sondern ein Entwicklungspotenzial in sich und damit im heranwachsenden Menschen bewahren.

Das Geheimnis der Unterrichtsqualität liegt deshalb weder in der einseitigen Überbetonung des Gedanken-Elementes, noch im einseitig lebendigen künstlerischen Schaffen, sondern gerade im Zusammenklang und Wechselspiel beider Kräfte. Gelingt es dem jungen Menschen, mit ganzer Gestaltungskraft und seelischer Aktivität vom Lebenspol eines Themas her auch den Todespol zu durchdringen, dann können sich in diesem Spannungsfeld aus der gestaltenden Regsamkeit der Individualität heraus neue schöpferische Kräfte bilden.

Anders formuliert: Der schöpferischen Individualität des jungen Menschen kann im Unterricht durch das Wechselspiel zwischen Lebens- und Todeskräften ein Entwicklungsraum eröffnet werden.

Blicken wir beispielhaft auf die »Entdecker-Epoche« einer 7. Klasse, in der am Ende, angeregt durch das Buch von Stefan Zweig, die Biographie Magellans dargestellt wurde.

Am Lebenspol entstanden aus den Erzählungen zunächst Bilder [siehe Schülerzeichnung rechts: Spanische Karavelle] und Landkarten. Im nächsten Schritt folgten Nacherzählungen und Schilderungen, die deutlich von der jeweiligen Schüler-Individualität geprägt waren:

»Der Blick von Magellan schweift um das Schiff herum, bis er plötzlich etwas im Seitenauge entdeckte. Er dreht sich in die Richtung und da sieht er Hunderte von kleinen Schiffen der Malaysier angefahren kommen. … Magellan hatte plötzlich das schreckliche Gefühl, betrogen worden zu sein. Der Admiral auf dem anderen Schiff indessen merkt nichts. Er ist zu sehr in das Schachspiel vertieft und sein Gegner ist gut. … Magellan denkt kurz nach und läuft dann zu einem Ruderboot. Auf dem Weg zum Boot nimmt er noch schnell eine Weinflasche mit und rudert zum Schiff des Admirals. Er tut, als er aufs Deck trat, so, als wolle er seinem Herrn eine Weinflasche bringen. Und während er dem Admiral die Weinflasche gibt, flüstert er in sein Ohr: ›Höchste Alarmstufe Rot!‹ – Der Admiral versteht sofort, doch nun muss er zwei Schachzüge gleichzeitig denken: Einmal, wie er die Feinde besiegen und hier weg vom Hafen kommt, zum andern den Schachzug auf dem Brett. Natürlich zieht er jetzt falsche Züge, aber das ist ihm in diesem Moment egal. Als über den Bäumen Rauchwolken aufsteigen, weiß er, dass das wohl das Zeichen ist …«

Als die Autorin dieses Aufsatzes ihr Werk vorlas, wurde es totenstill im Klassenraum. Es war, als bemerkte jeder, dass hier ein eigener, neuer Griff in das Speichenrad dieser Epoche getan wurde. Der Spannungsbogen des unmittelbaren Geschehens war unmittelbar zur Einheit verwoben mit klarster Gedankenkraft. – Im Sinne einer nachschaffenden objektiven Phantasie war hier im Wechselspiel von Lebens- und Todeskräften ein Stück Geschichte neu hervorgebracht worden.