Stichwort: Aufmerksamkeit. Aus der Schularztpraxis

Klaus Hadamovsky

Es ist schon eine Weile her. Die Schülerin B. war schon eine alte Bekannte in der Lerntherapie. Sie litt unter Aufmerksamkeitsproblemen. Ob sie litt, lässt sich eigentlich nicht sagen. Sicher war jedoch, dass ihre Umgebung litt.

B. war ein leuchtendes Beispiel für das Unbefriedigende der abgekürzten Diagnosen. ADS bedeutet ja Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom. B. hatte jedoch nicht zuwenig Aufmerksamkeit, sondern zuviel – und zwar, seit sie in der Pubertät war, gleichermaßen für innere wie äußere Geschehnisse. Selbst kleinste Kleinigkeiten entgingen ihr nicht, vorausgesetzt, sie hatten mit der Sache nichts zu tun.

An diesem Punkt begann dann das Leiden der Umgebung, besonders der Lehrkräfte. Denn ihre übersteigerte Aufmerksamkeit führte zu sogenannten Ablenkungen. B. war nicht nur abgelenkt, sie lenkte auch ab. Mit einem Einfallsreichtum, der einen nie sicher sein ließ: War das jetzt raffiniert oder naiv?

B. war in einem Alter, wo die Schülerinnen und Schüler die Inhalte der Förderstunden mitbestimmen, indem sie beispielsweise unverstandene Unterrichtsinhalte thematisieren oder darum bitten, ihre Hausaufgaben zu kontrollieren.

B.s Themenwahl war zum Leidwesen ihrer Lerntherapeutin wenig systematisch. Man könnte auch sagen sprunghaft. Das hörte sich meist etwa so an: »Also wir machen heute erstmal die Dreierreihe, ja? Ach nee, doch nicht so wichtig, lieber die Fünfer. Du, ich glaub, ich muss aufs Klo. Ach nee, vielleicht geht das ja doch noch, lass uns erst mal die Hausaufgaben. Oder nee, eigentlich brauch ich die gar nicht. Hat Frau S. gesagt. Dann doch lieber die Dreier. Kann ich mal telefonieren? Ich muss mich noch mit Oma … Gartenbau fällt nämlich aus, da häng ich hier. Was hast du gesagt, immer nur eins zur Zeit? Aber ich mach doch immer nur eins zur Zeit. Gleichzeitig kann ich doch gar nicht. Nee, weißt du was, ich geh jetzt doch aufs Klo. Oder erst Telefonieren, ja? Mathe ist überhaupt doof, lass uns lieber Deutsch …« Zu anderen Zeiten waren ihre Ablenkungen verblüffend situationsgerecht und von hoher Empathie geprägt. Sie konnte etwa durch die Tür mit den Worten hereinplatzen: »Wie siehst du denn heute aus? Du siehst aber gar nicht gut aus. Hast du Kopfweh?« Wonach ein längerer Austausch unter Frauen über Erfahrungen mit diesem Phänomen die Zeit für die Beschäftigung mit den eher lästigen Hausaufgaben verkürzte.

B. auf den Punkt zu bringen war eine Sisyphusarbeit. Jede innere oder äußere Wahrnehmung ließ den berühmten Felsbrocken wieder ins Tal rollen, und der Gipfel der Aufmerksamkeit, den man Konzentration nennt, war selten zu erreichen. Ihre Zerfahrenheit konnte einen zur Verzweiflung treiben, besonders im Klassenverband. Einzeln genommen, hatten ihre Ausweichbewegungen jedoch einen Charme, der das Ärgste verhinderte, etwa dass man zornig wurde. Die Episode mit dem Aussehen ist dafür ein gutes Beispiel, auch deshalb, weil sie B.s unbestreitbare Intelligenz zeigt.

Nach dem Rockmusical der Oberstufe – man könnte fast sagen Rockfestival, denn es gab eine Reihe von Aufführungen und auch zwischen denen rockte das gesamte Schulgelände – trat ihr Gesprächsbedarf über die Ufer und überflutete jedes andere Thema. Das geschah jedoch nicht flächendeckend, sondern in immer neuen Flutwellen. Da diese den Ablauf der Förderstunden doch sehr beeinträchtigten, wurde seitens der Lerntherapeutin nach den Aus­lösern der sprachlichen Flutwellen geforscht, in der Hoffnung, sie rechtzeitig erkennen und womöglich verhindern zu können. Im nachfolgenden Beispiel ließ sich zwar der Auslöser dingfest machen, die Flutwelle jedoch nicht vermeiden. Schauplatz war eine der von B. ungeliebten Mathe-Förderstunden, die ihr zuteil wurden, weil eine fatale Rechenschwäche vorlag. Auslöser der Flutwelle: der Begriff »Aussehen«.

»Jetzt sieh dir das doch noch mal genau an«, hatte die Lerntherapeutin soeben gemeint, »wie das hier aussieht.« Und sie hatte mit dem Finger auf das Blatt gewiesen: »Hier und hier und hier und da.« Es handelte sich um eine dieser vertrackten schriftlichen Subtraktionen, bei denen der Rechenturm so schief geworden war, dass niemand mehr erkennen konnte, was wovon abgezogen werden sollte. Eigentlich ein unmissverständlicher Hinweis, aber dummerweise war »Aussehen« das Stichwort. B.s Blick wurde träumerisch, dann schwärmerisch. »Findst du Chantal auch so toll?«, wollte sie wissen. Chantal war die tanzende und singende Frontfrau auf der guten Seite des Rockmusicals. B. hatte jede Aufführung besucht. Jetzt wartete sie die Antwort gar nicht erst ab. »Ich find, Chantal sieht einfach toll aus. Richtig schön.«

Chantal: achtzehn, hübsch, zierlich, mit knabenhaft straffen Bewegungen, tolle Figur also, auf der Bühne durch enge schwarze Lederkleidung noch betont, aber auch im Privatleben immer hochgestylt, wie aus dem Ei gepellt, sommers wie winters in hochhackigen Stiefeletten – und dazu eben noch einige Jahre älter.

Unsere liebe B. dagegen: bereits jetzt einen Kopf größer, trotzdem alles eher rundlich, motorisch zur Zeit ein wenig trampelig, unter weiblichen Gesichtspunkten eigentlich nett anzusehen, wenn auch immer irgendwie verzottelt … Der offenkundige Sachverhalt irritierte den lerntherapeutischen Sachverstand der Pädagogin und rief ihre mütterliche Seite in Aktion. »Ach weißt du«, sagte sie bedachtsam, »ich finde, du siehst sehr nett aus. Richtig hübsch sogar. Im Grunde gefällst du mir besser.« »Wirklich?« Damit hatte B. nicht gerechnet. Zunächst schwieg sie überwältigt. Dann hob sie den dankbaren Blick. Der Blick wurde kritisch, musterte forschend ihre Lehrerin, ganz Empathie und tastende Aufmerksamkeit. »Eigentlich«, sagte sie, »siehst du auch ziemlich gut aus. Find ich so.« Und dann, um das Lob auch richtig rund und glaubwürdig zu machen, schob sie noch nach: »Ich mein, so für eine Oma …« Der nachfolgenden verbalen Flutwelle war die Lerntherapeutin ziemlich hilflos ausgeliefert, was nach dieser entwaffnenden Vorbereitung nicht verwundern kann.

In der Lerntherapie gilt die strikte Befolgung einer gewaltfreien Kommunikation. Das lerntherapeutische Kunststück besteht darin, von so einem Thema wieder auf Mathe zu kommen. Ohne Gewaltanwendung.

Zum Autor: Dr. Klaus Hadamovsky ist Schularzt der Freien Waldorfschule Flensburg und betreibt gemeinsam mit seiner Frau die Praxis für Entwicklungs-Hilfe und Therapie.