Ohne Angst wären wir arm dran

Henning Köhler

Die Schwierigkeit, »das menschliche Gesicht der Angst« (Alois Hicklin) zu beschreiben, besteht darin, dass es zu großen Teilen verhüllt ist. Verhaltensforschung genügt nicht. Auch die Aussagekraft von Interviews ist begrenzt. Wer selbst einmal große Angst hatte, weiß, dass andere, die davon berichten, eigentlich nur um den heißen Brei des Unsagbaren herumreden.

Psychoanalytische Hypothesen über lebensgeschichtliche Kausalzusammenhänge sind unzuverlässig. Hier lauert der Post-hoc-ergo-propter-hoc-Fehlschluss (Nicht alles, was einer Erscheinung vorausgeht, ist auch deren Ursache). Wer partout will, findet immer eine lebensgeschichtliche Kausalität.

Ein schwer zu fassendes Gefühl

Es gibt gewisse Reaktionsmuster, die in akuten Gefahrensituationen bei Tieren wie bei Menschen auftreten. Man spricht vom natürlichen Schutz- und Überlebensmechanismus. Er löst zum Beispiel den Fluchtreflex aus. Wir wissen aber nicht, ob ein fliehendes Tier dasselbe empfindet, wie ein fliehender Mensch, der später sagen wird: »Ich hatte Angst« (und dies auch schon wusste, als er sich zur Flucht wandte).

Außerdem erleben Menschen viele Dinge als bedrohlich, erschreckend oder verunsichernd, von denen Tiere aller Wahrscheinlichkeit nach keine Ahnung haben (umgekehrt wohl auch). Schließlich sind die individuellen Unterschiede enorm. Manches mutet mysteriös an. Zum Beispiel Josua, zwei Jahre alt, der aus völlig unerfindlichen Gründen panische Angst vor dem Wind hat.

Menschen können ihre Angst in aller Regel als solche identifizieren, auch wenn sie vielleicht die Ursache nicht verstehen. Kinder äußern sehr früh und sehr sicher, dass sie Angst haben. Inwieweit sich alles, was uns widerfährt, verändert, sobald wir es identifizieren und benennen, ist eine spannende philosophische Frage.

Jedenfalls dürfte sich identi­fizierbare Angst allein dadurch, dass sie identifizierbar ist, grundlegend von bewusstloser Angst unterscheiden. Oder ist bewusstlose Angst ein viereckiger Kreis? Dieser Meinung war Søren Kierkegaard. Er schrieb: »In der Bewusstlosigkeit gibt es keine Angst.« Hier erhebt sich allerdings gleich die Frage, was Bewusstsein bedeutet. Rudolf Steiner zum Beispiel unterschied Wachbewusstsein, Traumbewusstsein und Schlafbewusstsein. Georg Kühlewind sah das menschliche Seelenleben ausgefaltet zwischen Unterbewusstsein und Überbewusstsein. Alle Klarheiten beseitigt?

Kierkegaard sprach vom selbstreferenziellen oder Zeugen-Bewusstsein, vermöge dessen mir meine eigene Existenz zur Frage werden kann. Ein Gedankenspiel: Was Menschen mit dem Begriff Angst belegen, verdankt seine Existenz womöglich der Tatsache, dass sie es in die Begrifflichkeit heraufheben. – Aber feilschen wir nicht um Worte. Man kann sicher auch das instinktive Verhalten der Tiere in Gefahrensituationen als Angst bezeichnen. Trotzdem sind anthropomorphe Übertragungen mit Vorsicht zu genießen.

Wir wissen alles über das olfaktorische System, können Duftstoffe chemisch bestimmen, aber wie (und warum) Gerüche seelisch wirken, muss auf andere Art ermittelt werden. Ebenso wenig lässt sich von äußeren Zeichen der Angst ableiten, welches innere Drama sich hinter ihnen verbirgt. Das können Betroffene nur subjektiv schildern, und es ist bekanntlich schwer, passende Worte dafür zu finden. Meist kommen sie einem unpassend vor, viel zu banal. Die Darstellungen divergieren stark. Trotzdem treten Ähnlichkeiten zutage, Grundformen der Angst werden silhouettenhaft sichtbar. Es ist freilich ein weites Feld. Einfache Klassifikationsschemata greifen immer zu kurz. Wir sollten uns an den bemerkenswerten Satz von Erich Segeberg halten: »Die höchste Subjektivität ist das Mittel, um das wahrhaft Objektive schöpferisch zu erfassen.« Manche Klienten sind für die Anregung dankbar, ihre Angst zu malen. Oder durch ein Märchen darzustellen.

Kierkegaard brachte Licht in den verworrenen Zusammenhang zwischen Freiheit, Verantwortung, Schuld und Angst. Der Begriff »Angst vor Selbstverfehlung« findet sich bei ihm. Er machte deutlich, dass jede aufwärts führende geistige Entwicklung unweigerlich durch Angstkrisen führt. Tatsächlich haben wir in mancher Hinsicht nur die Wahl, dumpf zu bleiben oder uns der Angst zu stellen.

Angst lässt prinzipiell auf Überforderung schließen. Jeder Schritt ins Offene, Unbekannte ist überfordernd. Will man der Angst partout ausweichen, kommt die Entwicklung zum Stillstand. Vermeidungsstrategien äußern sich oft in Form von Zwängen oder Süchten. Paradoxerweise wächst die Angst vor Selbstverfehlung, je mehr das Abwehrverhalten gegen jedwede andere Angst lebensbestimmend wird.

Angst muss nicht egoistisch sein. Sie kann aus Empathie oder tief empfundener Verantwortung resultieren. Sicher, wenn ich Angst um meine Kinder oder um einen suizidgefährdeten Freund habe, ist das keine lupenrein altruistische Regung – wir fürchten ja immer auch den eigenen zu erwartenden Schmerz –, aber eigennützige Motive treten hier weit zurück. Was wäre der Mensch ohne diese wunderbare Eigenschaft?

Nicht das Gegenteil von Mut

Die verbreitete Auffassung, Angst sei ein Feind, welchen es zu bekämpfen, zu überwinden, wegzuschaffen gelte, hält keiner differenzierten Betrachtung stand. Heute besteht eine starke Tendenz, Angst und Traurigkeit pauschal zu entwerten. Das hängt mit dem ganzen Wellness- und Happyness-Kult zusammen. Die Pharma-Industrie verdient prächtig daran. Nur zur Erinnerung: Jeder kreative Prozess durchläuft Phasen der Verzagtheit und der Niedergeschlagenheit. Solche Engpässe gehören einfach dazu. Sonst bleibt alles … tralala. Zur Ehrenrettung der Angst und der Traurigkeit mögen auch die folgenden Andeutungen beitragen: Bezähmte, diskrete Angst äußert sich als Zurückhaltung, Behutsamkeit.

Mut ist nicht das Gegenteil von Angst, sondern bedeutet, sich in der Angst aufzurichten. Tiefe, anhaltende Traurigkeit ist noch lange keine Depression. Wer Traurigkeit nicht zulassen kann, bringt sich um Begegnungen mit dem Genius der Melancholie. Das ist ein großer Verlust.

Halten wir also fest: Ein Mensch, der weder Angst noch Trauer empfinden könnte, wäre arm dran.

Psychopharmaka sind keine dauerhafte Lösung

Ab einem gewissen Grad ist die Angst allerdings nur noch qualvoll. Manchmal hat das klar ersichtliche Gründe, manchmal nicht. Betroffene brauchen therapeutische Hilfe und ein unterstützendes soziales Umfeld, sonst fallen sie ins Bodenlose.

Psychopharmaka sind zwar keine Lösung, aber manchmal notwendig, um wenigstens einen schwachen Abglanz von Lebensqualität zu erhalten. Auf Dauer freilich gibt es keine andere Rettung als die, innere Kraftquellen freizulegen, um der Angst den Schrecken zu nehmen. Geheilt ist ein angstgeplagter Mensch nicht, wenn er seine Angst (scheinbar) erfolgreich weggesperrt oder lahmgelegt hat, sondern wenn es ihm gelingt, Frieden mit ihr zu schließen.

Ich habe in den letzten 30 Jahren hunderte Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene kennengelernt, die unter mehr oder weniger starken Ängsten litten. Nur nebenbei sei bemerkt: Schulangst greift epidemisch um sich. Die Härte, mit der Lehrer, Ärzte, Psychologen, Behörden, in zweiter Linie auch Eltern darauf reagieren, hinterlässt uns oft fassungslos.

Das grenzt nicht nur an seelische Kindesmisshandlung, es ist seelische Kindesmisshandlung. Nur mal als Anregung: Vielleicht haben Schulängstler gute Gründe für ihre Angst. Gründe, die in der Schule selbst liegen.

Vier Grundformen der Angst

Nicht immer resultieren Angstzustände aus akuten Bedrohungen, belastenden Lebensumständen oder nachwirkenden Traumata. Wie gesagt: Angst gehört zur menschlichen Grundbefindlichkeit. Das lässt sich gut am Beispiel der Pubertätskrise erläutern. Als erste große Sinnkrise des Lebens ist sie äußerst lehrreich. Schon deshalb, weil sie uns später immer wieder einholen kann.

Im Jugendalter bricht der so genannte Identitätskonflikt auf. Vier Fragen drängen in das Bewusstsein herauf. Manchmal werden sie klar gestellt, manchmal fehlt dazu noch die Selbstreflexionsfähigkeit:

  • Wer bin ich?
  • Wie werde ich wahrgenommen?
  • Was vermag ich?
  • Wie will ich werden?

Hinter jeder der Fragen steckt aber eine tiefere, grundsätzlichere:

  • Existiere ich überhaupt?
  • Werde ich überhaupt wahrgenommen?
  • Vermag ich überhaupt etwas Erwähnenswertes?
  • Gibt es überhaupt lohnende Entwicklungsziele?

Jede dieser Fragen schillert zwischen Angst und Hoffnung. So stoßen wir auf vier, ich möchte sagen, entwicklungsnotwendige Ängste, mit denen jeder umgehen lernen muss, um hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken.

  • Existenzielle Angst: »Manchmal kommt es mir so vor, als wäre ich gar nicht wirklich da. Was heißt überhaupt ›ich‹? Ist das am Ende nur eine Illusion? Warum spüre ich mich manchmal gar nicht richtig?«
  • Sozialangst: »Kann ich vor dem Urteil meiner Mitmenschen bestehen? Bin ich liebenswert? Sieht MICH überhaupt jemand? Gibt es Liebe? Kann man vertrauen?«
  • Versagens- oder Ohnmachtsangst: »Habe ich besondere Fähigkeiten? Wird mir etwas gelingen, das der Rede wert ist? Lohnt es sich, etwas anzufangen? Oder bin ich zum Loser geboren? Kann man überhaupt SELBST handeln, oder sind wir nur Getriebene, Blätter im Wind, Rädchen im Getriebe, je nachdem, wie man es sehen will?«
  • Zukunftsangst: »Die Welt ist voller Gefahren, man weiß nie, was als Nächstes kommt. Wie, wenn es ganz vergebens wäre, sich an Idealen zu orientieren, gar Utopien nachzustreben? Ist das, was man Selbstverwirklichung nennt, am Ende nur eine hohle Phrase? Wohin treibt die Welt? Auf den Abgrund zu? Und ich mit?«

Vier Formen von Angst, vier bange Fragen. Dass sie eng zusammenhängen, ist deutlich. Den einen quält mehr diese, den anderen mehr jene. In einer tiefgreifenden Sinnkrise treten sie alle gleichzeitig auf, mit verschiedenen Schwerpunkten und verschiedenen symbolischen Repräsentationen. Insofern gleichen wir Pubertierenden, bei denen die Pubertät pathologisch eskaliert, wenn uns Existenzangst, soziale Beklemmungen, Versagensgefühle und Hoffnungs­losigkeit niederwerfen.

Mir ist bewusst, dass ich eingangs vor Klassifikationsschemata gewarnt habe und nun selbst eines anbiete. Aber damit ist kein Anspruch auf Vollständigkeit verbunden, es sind nur Aspekte. Über Bezüge der vier genannten Angstformen zu früheren Kindheitsphasen zu sprechen, würde hier den Rahmen sprengen. Zweierlei aber muss ich zumindest noch andeuten: erstens die gesellschaftliche Dimension der Angst. Darüber hat kaum jemand so trefflich geschrieben wie Horst-Eberhard Richter in seinem radikalen Buch Umgang mit Angst. Zweitens lassen sich aus meinen Ausführungen Richtungshinweise für die Therapie destillieren. Zur Linderung existenzieller Angst sind vornehmlich Körpertherapien angezeigt. Zur Linderung der Sozialangst brauchen die Betroffenen ein echtes Beziehungsangebot seitens des Therapeuten und sind darauf angewiesen, dass er ihnen hilft, allmählich wieder Sozialkontakte zu knüpfen. Bei Versagensangst gilt als goldene Grundregel: Kunst heilt. Und um der Zukunftsangst den Stachel zu nehmen, muss der visionäre Geist wieder geweckt werden. Da gibt es eindrucksvolle Konzepte (Stichwort: Visionssuche). Jede Therapie bei schweren Sinn-, Angst- und Selbstwertkrisen müsste die genannten Elemente enthalten.

Zum Autor: Henning Köhler ist Heilpädagoge, Kinder- und Jugendtherapeut am Janusz-Korczak-Institut und Begründer der Heilpädagogischen-Therapeutischen Ambulanz; ausgedehnte Lehr- und Vortragstätigkeit im In- und Ausland; zahlreiche Buchveröffentlichungen.