Nyendo – Schüler wirtschaften global sozial

Alexander Piecha

Im Geschichtsunterricht der Oberstufe begegnet mir oft ein sehr waches und feines Gespür für die aktuellen Probleme der Menschheit, verbunden mit dem starken Wunsch, selbst tätig zu werden. Seitdem unsere Schule in Evinghausen im Nyendo-Netzwerk ist, realisieren wir diesen Wunsch, indem wir als soziale Unternehmer global Gesellschaft mitgestalten. Dabei können die Schüler die Grundlagen eines solidarischen Wirtschaftens im Sinne der Sozialen Dreigliederung in der Praxis erlernen. Außerdem arbeitet Nyendo in den Bereichen Permakultur, Urban Farming und Upcycling und folgt der Idee von Regionalwährungen und des Grundeinkommens.

Irmgard Wutte gründete 1990 die Rudolf-Steiner-Schule in Nairobi. 2001 kehrte sie nach Deutschland zurück, nahm aber die Frage mit, wie junge Menschen auf eine Weltgesellschaft im Zeitalter der Globalisierung vorbereitet werden können. Rudolf Steiner zufolge sollte jeder Waldorfschüler nach Abschluss der Schule wissen, was Soziale Dreigliederung ist. Wie aber lässt sich das heute realisieren? Die Antwort lautet: Durch ein Erlebnis-Aktions-Lernfeld, also einen konkreten Handlungsrahmen, in dem die Schüler globale Zusammenhänge erfahren können.

Daher die Idee, einen fairen Handel mit Produkten aus Kenia als Schülerfirma aufzubauen und mit Schülern zu führen. An der Waldorfschule Ismaning fand Irmgard Wutte 2004 ein aufgeschlossenes Kollegium. Zehn Schüler aus der zehnten Klasse gründeten mit ihr die erste Nyendo-Schülerfirma, um die Rudolf-Steiner-Schule Nairobi zu unterstützen. Seither handeln sie mit kunsthandwerklichen Produkten und haben bis jetzt an die 100.000 Euro ihrer afrikanischen Partnerschule schenken können. Elf Schülerjahrgänge waren seither zu Besuch vor Ort.

Wutte hatte von Anfang an ein übertragbares Konzept einer ganzen Bewegung vor Augen. 2005 kam es zu einer schicksalshaften Begegnung mit einer Schule im Slum von Nairobi. Sie traf dort die Schulleiter der Selbsthilfeschulen – die »Helden unserer Zeit« (Jeremy Rifkin).

80 Prozent der vier Millionen Einwohner Nairobis leben auf nur fünf Prozent der Wohnfläche in Slums, dicht gedrängt in Wellblechhütten, ohne Wasseranschluss oder sanitäre Anlagen, zwischen Müll und offenen Abwasserkanälen. Ihr Leben fristen sie als Tagelöhner – in einer Stadt, in der die Grundstückspreise zu den höchsten der Welt zählen. Auch wenn der kenianische Staat für die Schulbildung zuständig ist, gibt es fast keine öffentlichen Schulen für die Kinder in den Slums. Unbeaufsichtigt treiben sie durch den Tag. Für 100.000 Kinder in Kangemi und Kawangware, in denen Nyendo aktiv ist, gibt es nur sechs staatliche Schulen, aber 113 von Eltern und Lehrern gegründete Community Schools.

Die Lehrer verdienen im Durchschnitt einen Euro am Tag; in den gesetzlich vorgeschriebenen vier Monaten Ferien gibt es gar kein Gehalt. In einem beliebigen Supermarkt sind die Lebensmittelpreise nicht viel niedriger als bei uns.

Charles Oduor ist der Leiter unserer Partnerschule »Five-Star-Academy«. Auf seiner Vortragsreise durch einige Waldorfschulen Norddeutschlands berichtet er, wie er aus einem armen Dorf nach Nairobi kam, um Geld für seine Familie zu verdienen. Angesichts des Elends in den Slums, vor allem der vielen Kinder, die unbeaufsichtigt inmitten von Müll nach Nahrung suchten, entschied er sich 2008 im Alter von 23 Jahren, seine persönlichen Ziele hintan zu stellen und statt weiter nach einem Job zu suchen, mit einem Startkapital von umgerechnet neun Euro eine Schule zu gründen. Heute, zehn Jahre später, werden dort 264 Kinder beschult und über den Unterricht hinaus auch betreut. Täglich erhalten sie eine warme Mahlzeit.

Die Schüler sitzen in oft dunklen und völlig überfüllten »Klassenzimmern« zu viert auf einer Bank von 1,20 Meter Breite und erhalten von morgens bis abends Frontalunterricht im Stil des alten britischen Schulsystems. Trotzdem sind sie erfüllt von Lerneifer, begrüßen ihre Lehrer freudig und strahlen die Besucher herzlich an. Slogans an den Wänden, wie »Education is fun« oder »Education is the key to success« sind hier keine hohlen Phrasen: Die Schüler wissen, dass ein Schulabschluss die erste Voraussetzung ist, aus dem Slum herauszukommen.

2012 gründete Irmgard Wutte »Nyendo.lernen« und die Freie Waldorfschule Prien war die erste Schule im Netzwerk. Ziele des Netzwerkes sind Partnerschaften von Schulen in Deutschland und in den Slums von Nairobi auf gleicher Augenhöhe, kultureller Austausch und gegenseitiges Lernen, denn die Menschen in Afrika verfügen über einen großen Reichtum nicht-materieller Art.

Aktuell sind sieben deutsche und vierzehn kenianische Schulen Teil des Nyendo-Netzwerks. An letzteren werden von 156 Lehrern über 4.000 Schüler unterrichtet, von denen aber nur ca. 1.200 ein geringes Schulgeld von durchschnittlich 4,80 Euro pro Monat entrichten können.

Für die Schüler an den sieben deutschen Partnerschulen gelten folgende Netzwerk-Regeln:

  1. Die Mitarbeit ist freiwillig, aber verbindlich.
  2. Die Schülerfirma arbeitet jahrgangsübergreifend als Team zusammen.
  3. Sie entwickelt eine nachhaltige Geschäftsidee mit dem konkreten Ziel, 5.000 Euro im Jahr zu erwirtschaften.
  4. Der erwirtschaftete Erlös wird einer Partnerschule in einem Entwicklungsland geschenkt. Mit dieser Partnerschule kommunizieren sie auch, etwa via Skype.
  5. Die Mitarbeiter dürfen nach zweijährigem Engagement in ihrem Sozialpraktikum die Partnerschule besuchen, wenn sie zudem mindestens zwei Mal die jährliche Klausurtagung der Mitgliedsschulen besucht haben.
  6. Sie arbeiten mit einem Netzwerk von Schülerfirmen zusammen.
  7. Sie dokumentieren und präsentieren ihre Arbeit.

Austausch – kein Elendstourismus

In ihrem Sozialpraktikum erleben die Schüler hautnah, wie brüderlich und selbstlos die Menschen dort arbeiten und kommen oft von tiefer Dankbarkeit erfüllt zurück. Für die Kenianer wiederum ist es ein großes Wunder, dass die reichen Deutschen sich für das bedanken, was ihnen in Afrika geschenkt wird. In diesen Momenten wird unsere Welt ein kleines Stück geheilt!

Das funktioniert aber nur, wenn die Schüler sich vorher aktiv mit der Situation vor Ort auseinandergesetzt haben – sonst wäre der Aufenthalt in den Slums eine traumatische Überforderung oder eine Art Elendstourismus, aber keine Partnerschaft auf Augenhöhe. Und natürlich müssen die Schüler gewisse Verhaltensmaßregeln beachten, die sie zu ihrer eigenen Sicherheit mit auf den Weg bekommen.

Das Alter von 17, 18 Jahren ist ideal für so eine Reise, da die Jugendlichen einerseits offen und frei für neue Begegnungen, andererseits jung und empfänglich genug sind, um den vorgegebenen Rahmen zu achten. Die Erfahrung der völlig anderen Lebensumstände und seelischen Gestimmtheit prägt sich in diesem Alter wie ein Ur-Erlebnis ein und führt meist zu einem enormen Entwicklungsschritt. Zu Recht kann daher von einer Art Jugendinitiation an der Schwelle zum Erwachsensein gesprochen werden. Sich vorbehaltlos und präsent dem Unbekannten zu öffnen, die vielen kleinen Wünsche und Befindlichkeiten zurüc­kzuhalten und die eigenen Ängste meistern zu lernen, stärken das Selbstvertrauen und das Gefühl der Selbstwirksamkeit.

Geschäftsideen entwickeln und durchführen

Über zwanzig Schüler unserer Schule aus den Klassen 9 bis 12 arbeiten aktiv mit und haben bereits verschiedene Geschäftsideen entwickelt:

  1. Catering. Eine Gruppe bietet schulintern für Elternsprechtage, Klassenspiele und sonstige Veranstaltungen einen Catering-Service an. Dieses Angebot wurde bereits gut angenommen und hat für einen erfreulichen Gewinn gesorgt.
  2. Pfandflaschen. Eine Pfandtonne auf dem Schulgelände nimmt Pfandflaschen entgegen, die dann von den Nyendo-Schülern für unsere Partnerschule zu Geld gemacht werden.
  3. Kleidung. Den aus einer Facharbeit vor zwei Jahren resultierenden Online-Shop für Fairtrade-Kleidung aus Biobaumwolle, die mit einem Schulslogan bedruckt ist, wollen einige Zwölftklässler in eine Schülerfirma umwandeln und ausbauen.
  4. Kokosöl. In Zusammenarbeit mit CocoVita, einer kleinen Gemeinschaft von Kokosbauern aus Kaloleni an der Küste des Indischen Ozeans, will eine Schülergruppe versuchen, hochwertiges Kokosöl zu importieren, um es hier in Deutschland zu vermarkten. Diese Idee ist besonders bestechend, weil sie armen Kenianern auf dem Land ein Einkommen verschafft und ihnen hilft, gegen die massive Abholzung zu kämpfen, während die Gewinne aus dem Verkauf wieder nach Kenia zurückfließen.
  5. Tombola. Auf dem Basar findet regelmäßig eine Tombola zugunsten unserer Partnerschule statt – 2017 wurden allein damit 1.000 Euro eingenommen.
  6. Lernspiel. Einer der Zwölftklässler, der für Nyendo aktiv ist, hat im elften Schuljahr als Facharbeit ein kartenbasiertes Lernspiel zur Geografie entwickelt, das bei der Vorstellung vor dem Kollegium eine so positive Resonanz erfuhr, dass er mit Hilfe der anderen nun versuchen will, es drucken und vermarkten zu lassen.
  7. Upcycling. Noch in den Startlöchern steckt die Idee, alte Weinflaschen so zuzuschneiden und die Schnittkanten zu glätten, dass daraus stylische Trinkgläser und Lampenfassungen entstehen.

Dabei gibt es viel zu lernen, denn schließlich gilt es, nicht nur Ideen zu entwickeln, sondern sie auch umzusetzen. Um nur einige Aufgaben zu nennen:

  • Termine mit der Bank machen, um ein Geschäftskonto zu eröffnen
  • Marktforschung / Bedarfsermittlung
  • Geschäftspartner kontaktieren
  • Entwicklung eines Geschäftsplans
  • Zeitplanung / Termine
  • Kundenakquise
  • Buchführung
  • Konferenzarbeit: Arbeitsteilung, Verabredungen, Tagesordnungen, Protokolle
  • Schüler aus den unteren Klassen für die Mitarbeit gewinnen.

All diese Lerninhalte stehen nicht in irgendeinem Curriculum, sondern ergeben sich aus Notwendigkeiten. Wenn Verabredungen nicht eingehalten werden, jemand eine übernommene Aufgabe vergisst, hat das konkrete Auswirkungen auf alle anderen – anders als bei versäumten Hausaufgaben. Unsere Partner im Slum müssen sich auf uns verlassen können! Bei alledem brauchen selbst die Tatkräftigsten und Engagiertesten der Zwölftklässler noch Unterstützung durch einen Lehrer. Bei uns an der Schule sind es zwei Kollegen und unsere Geschäftsführerin, die ihnen aktiv zur Seite stehen, sowie das ganze Kollegium. Nicht zuletzt erweitert Nyendo unser Schulprofil und hat bereits mehrfach Anlass für Artikel in Zeitungen gegeben.

Wünschenswert wäre es, wenn das Netzwerk auf deutscher Seite wächst, um unseren kenianischen Partnern die Mittel zu verschaffen, ihren Slogan »Inuka Sasa« (»Erhebt euch jetzt«) in die Tat umzusetzen.

Zum Autor: Dr. Alexander Piecha ist Mathematik- und Geschichtslehrer an der FWS Evinghausen und in der Lehrerbildung tätig. piecha@waldorfschule-evinghausen.de

https://nyendo-lernen.de