»O Mensch, erkenne Dich«. Begegnungen mit der (über)sinnlichen Welt

Mathias Maurer

Die Mysteriendramen Steiners sind eine Wucht, eine Zumutung: Sprachlich wortgewaltiger Anthroposophenbarock, gedanklich eine Achterbahn, zeitlich ein 25-Stunden-Marathon. Für Uneingedachte und Nicht-Anthroposophen eine schiere Überforderung. Und dennoch: Lässt man sich unvoreingenommen auf das dramatische Geschehen ein, das sich hier auf der Dornacher Bühne hauptsächlich in seelisch-geistigen Reichen abspielt, können dem Zuschauer Lichter aufgehen, die ihm Handlungsmöglichkeiten in der Lebenspraxis bieten und ihn ganz konkrete Probleme im Zusammenhang menschlicher Gemeinschaften lösen lassen. Die Dramen zeigen, wie individuelle und soziale Entwicklung durch schicksalhafte Konstellationen untrennbar miteinander verbunden sind und wie wir ohne »geistigen Durchblick« schnell an Verständnisgrenzen stoßen und immer wieder – sei es individuell oder in Gemeinschaften – an den gleichen Probleme scheitern. Steiner knüpft mit seinen Dramen, die er zwischen 1910 und 1913 niedergeschrieben hat und für die in München eigens ein »Tempel« errichtet werden sollte, nicht nur an die reiche Tradition des bis in die Antike zurückreichenden Mysterienspieles an, verarbeitet nicht nur Figuren aus Goethes »Märchen von der grünen Schlange«, sondern, und das ist das sensationell Neue, verarbeitet eigene schicksalhafte Begegnungen mit Menschen, mit denen er im Laufe seines Lebens zu tun hatte. 

Gemeinsam in aller Verschiedenheit 

Um nur einige Protagonisten zu nennen: Da gibt es einen Benedictus, den unangefochtenen Weisheitslehrer, der seinen Schülern immer wieder Tipps geben kann, auf ihren Weg der Selbsterkenntnis zurückzufinden. Es gibt einen Künstler, Johannes Thomasius, der sich meditierend in geistige Höhen katapultiert und schnell die Bodenhaftung verliert, dann Capesius, ein ernsthafter Geisteslehrer alter Schule, einen Dr. Strader, der sich schwer tut, sich von seiner technisch-materialistischen Weltanschauung zu lösen, den Naturmystiker Felix Balde in seiner schlicht-kindlichen Geistesschau, schließlich Maria als christlichen Prototyp, die ausgleichend vermittelt. – Unterschiedlicher könnten die Individuen, die hier in Erscheinung treten, nicht sein.

Alle erleiden ihr individuelles Schicksal, erleben Irrungen und Abstürze, nah dem Wahnsinn gar, aber auch das Glück befreiender Erkenntnismomente, wenn sie sich mehr und mehr als zusammenarbeitende Gemeinschaft sehen lernen und ihre Selbstbezogenheit überwinden. Die Widerstände, denen sie begegnen, sind allzu bekannt.

Sie liegen nicht nur in widrigen äußeren Ereignissen, sondern auch inneren Schwierigkeiten: Die Vergangenheitskräfte dominieren, neue Impulse kommen nicht durch. Oder die Verbundenheit mit der gestellten Aufgabe ist nicht stark genug. Oder die Selbstliebe, die sich gerne altruistisch gibt, blockiert die Selbsterkenntnis. So gilt es, sein Schatten-Ich (anthroposophisch: Doppelgänger) kennenzulernen, ihm zu begegnen und es schließlich zu integrieren. 

Die Gesetze des seelischen und geistigen Lebens kennenlernen 

Ein Stein fällt von oben nach unten, ein Lichtstrahl bricht sich in der Linse, Salz löst sich in Wasser … das Kennen­lernen dieser Gesetze der physikalisch-chemischen Welt gibt uns Sicherheit. Unsicherer werden wir, wenn wir in unsere Innenwelt eintauchen, in seelische und geistige Reiche eintreten. Steiner hinterließ mit den vier »Mysteriendramen« einen kühnen Wurf, der in seiner konkreten Detailliertheit Anthroposophie im vollen Leben auf der Bühne darstellt.

Dagegen wirken Psychologie und Psychoanalyse wie ausgehirnte anämische Spekulationskonstrukte. Die »Mysterien­dramen« bringen ins Bild und ins Erlebnis, dass in den Seelen- und Geistesreichen genauso Gesetzmäßigkeiten – wenn auch andere – herrschen wie in der physisch-äußeren Welt. Diese übersinnliche Welt, die hinter unserer sinnlich wahrnehmbaren Welt existiert und wirkungsvoll, ja erziehend in unserem Schicksal mitmischt, ist überhaupt die größte Zumutung für den heutigen Zeitgenossen. Ebenfalls eine Zumutung – für »Uneingeweihte« bloße Annahmen, für Steiner Gewissheit: Es wirken in unserer Seele objektiv geistige Weltenkräfte, die man kennenlernen muss, will man ihnen nicht unterliegen oder sich von ihnen beherrschen lassen.

Emanzipiert sich der Mensch von solchen Kräften, die man auch als Erdenflucht (»Luzifer«) und Erdensucht (»Ahriman«) bezeichnen könnte, wird er frei, sich und sein Schicksal in die Hand zu nehmen. Und schließlich die Zumutung, dass ohne die konkrete Einbeziehung des Reinkarnationsgedankens ein Menschenschicksal oder das Schicksal einer Gemeinschaft sich schlichtweg nicht verstehen lässt. Menschen, die sich heute begegnen, hatten meistens schon einmal in einem früheren Leben miteinander zu tun, wenn auch möglicherweise in anderen »Rollen«. Das wird in diesen Dramen dargestellt. 

Einsicht, die uns meistens fehlt 

Man kann es bedauern, dass diese Bildungsinhalte nicht Allgemeingut sind, weil sie, wie die Naturgesetze auch, bei Nichtberücksichtung voraussehbare Folgen zeitigen und im gegenteiligen Fall manches Lebensrätsel lösen könnten. Die Bedeutung für den erziehenden Menschen besteht darin, dass er sich in seinem Ich in der Gemeinschaft spiegelt und dadurch Hinweise erhält, sich zu erkennen und weiter­zuentwickeln. Esoterik wird in den »Mysteriendramen« konkret anschaulich, wird öffentlich und befreit sich aus dem Muff beschaulicher Stunden in mystischer Versenkung.

Geht der Mensch den Erkenntnisweg auf Erden, der ihn aus seiner Opfer- oder Erduldungsrolle befreit, wird er zum Schöpfer seines Schicksals, wird er auch Mitgestalter in der geistigen Welt – das ist die Botschaft dieser Dramen. Viele Beispiele aus dem Alltag in Schule, Kindergarten, Familie oder Beruf, die sich in handfesten menschlichen Beziehungen darleben, weisen darauf hin, dass ohne die erhellende Macht karmischer Erkenntnis soziale und individuelle Probleme unverständlich bleiben müssen.

»O Mensch, erkenne Dich« – eine wiederholte, nahezu beschwörende Anrufung in diesen Dramen. Man sollte sich solche Zumutungen gönnen. Den Beweis liefert das Leben – vielleicht. Allerdings nicht eines allein. 

Hinweise: Die »Mysteriendramen hautnah« können Sie nicht nur in Dornach erleben. Die aktuellen Aufführungstermine und -orte einzelner Szenen finden Sie unter: mysteriendramen-hautnah.ch und können dort auch gebucht werden. Die gesamten »Mysteriendramen« werden wieder vom 2. bis 7. August 2011 in Dornach aufgeführt.

Literaturtipp: Mysterienbilder, Texte zu den Mysteriendramen Rudolf Steiners – Theorie, Figuren, Momente, 128 S., Neuauflage 2011, zu bestellen bei: projekt.zeitung, Wichertstr. 44, 10439 Berlin, E-Mail: info@projektzeitung.org, www.projektzeitung.org