Nicht das Tafelsilber veräußern!

Michael Zech

Schüler, die das Abitur machen wollen, müssen solide auf die Prüfungen vor­bereitet werden. Das bringt mit sich, dass der Unterricht spätestens in der 12. Klasse auf die vorgegebenen Lernziele und Unterrichtsinhalte ausgerichtet sein muss. Das kann mit der Zielsetzung des Waldorflehrplans kollidieren und zwingt zu kreativen Lösungen. Die Streichung der historischen Überblicksepoche zugunsten des Regelschullehrplans ist allerdings keine Lösung.

Der für die 12. Klasse im Waldorflehrplan vorgesehene geschichtliche Überblick will die Voraussetzungen der Urteilsfähigkeit der Schüler in Sachen Geschichte und Kultur bewusst machen. Historizität und Bewusstseinswandel werden durchdacht, Sinnstiftungskonzepte reflektiert. Geschichte wird als Menschheitsgeschichte und damit als eigene Geschichte fassbar.

Dieses Vorgehen ist ein Alleinstellungsmerkmal der Waldorfschulen, das dem Orientierungsbedürfnis des Schülers in einer globalisierten, interkulturellen Gesellschaft Rechnung trägt. Denn das Zeitalter der Globalisierung fordert, sich auf  fremde Lebens- und Denkformen einzulassen. Der 2003 verstorbene amerikanische Kulturkritiker Neil Postman schlug in seinem Spätwerk »The End of Education« die Revision des national orientierten Geschichtsunterrichts vor. Er sah es als notwendiges Bildungselement an, sich mit den Denkangeboten alter Kulturen zu beschäftigen und dabei archäologische und anthropologische Methoden anzuwenden. Der Geschichtsdidaktiker Bodo von Borries schlägt vor, die Geschichte in ihrer Gesamtheit zu thematisieren und auf mehreren Ebenen zu reflektieren. Er verweist auf eine Analyse deutscher Abituraufgaben, in der festgestellt wird, dass die europäische und universale Dimension der Geschichte unterschätzt und die Aufgaben auf deutsche Themen verengt würden.

Unter Weltgeschichte versteht der Waldorflehrplan einen Unterricht, der die gesamte Geschichte betrifft und die frühen Kulturen einschließt. In jeder Unterrichtsstunde soll er dazu beitragen, dass die Schüler sich selbst und die Herausforderungen ihrer Epoche verstehen. Der Waldorfpädagoge und Historiker Christoph Lindenberg bezeichnet einen solchen Geschichtsunterricht als historische Anthropologie.

Von Borries vertritt die Auffassung, dass sich Geschichtsunterricht hin zu einer Kategorienliste und weg von einem Stoffkanon entwickeln muss. Denn der globalen Dimension kann nicht mit festgelegten Inhalten entsprochen werden, sondern nur dadurch, dass Kulturphänomene anhand von Beispielen verdeutlicht werden. Aus eben solchen Überlegungen aber resultieren die Vorschläge des Waldorflehrplans, in der 12. Klasse geschichtliche Überblicke zu erstellen.

Von Borries stellt in seiner Expertise zu einem Kerncurriculum Geschichte fest, dass Gymnasiasten sich schwer tun, das Fremde zu verstehen und den Wandel wahrzunehmen. Hier zeigt der Lehrplan der Waldorfschule mit seinem doppelten Durchgang durch die Kulturgeschichte und der abschließenden Reflexion geschichtlicher Erzählstrukturen in der historischen Überblicksepoche der 12. Klasse andere Möglichkeiten.

In den Klassen 10, 11 und 12 werden Verfahren mit den Schülern praktiziert und eingeübt, wie sie die Fachdidaktikerin Susanne Popp für einen modernen Geschichtsunterricht anregt. Sie schlägt vor, zu vergleichen, was zur gleichen Zeit in ver­schiedenen Weltteilen geschah, oder wie verschiedene Kulturen mit ähnlichen geographischen Gegebenheiten umgingen. Solche methodischen Ansätze ermöglichen nach Ansicht Popps, lokale und nationale Ereignisse oder Prozesse in den Wandel großer Zeitlinien einzuordnen und somit das Bewusstsein für geschichtlichen Wandel differenzierter zu entwickeln. Und eben solche Zusammenhänge werden in der Über­blicksepoche der 12. Klasse an der Waldorfschule hergestellt.

Es hängt sicherlich stark vom jeweiligen Lehrer und seiner Unterrichtskultur ab, ob und wie die politikorientierte nationale Geschichtsbetrachtung, wie sie in den Abschlussklassen der Gymnasien praktiziert wird, in Beziehung zum kultur- und bewusstseinsgeschichtlichen Konzept der Waldorfschulen gebracht wird.

Tragisch aber wäre es, wenn die Waldorfschule mit der Überblicksepoche in der 12. Klasse das Element aufgäbe, das zu einem differenzierten und reflexiven Geschichtsbewusstsein entscheidend beiträgt. Dann würde ausgerechnet das abgeschafft, was als Zukunftsaufgabe gefordert ist, und was bislang nirgends außer an Waldorfschulen in dieser Weise geboten wird.

Zum Autor: Michael Zech ist Oberstufenlehrer für Deutsch, Geschichte und Sozialkunde und arbeitet als Dozent am Lehrerseminar für Waldorfpädagogik in Kassel.

Literatur:

Bodo von Borries: Historisch Denken Lernen – Welterschließung statt Epochenüberblick. Geschichte als Unterrichtsfach und als Bildungsaufgabe. Opladen&Framington Hills 2008; Bodo von Borries: »Kerncurriculum Geschichte in der gymnasialen Oberstufe.« In: Kerncurriculum Oberstufe II, Weinheim 2004; Christoph Lindenberg: Geschichte lernen. Thematische Anregungen zum Lehrplan. Stuttgart 1981; Susanne Popp: »Orientierungshorizonte erweitern – welt- und global-geschichtliche Perspektiven im Geschichtsunterricht.« In: Informationen für den Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer, Heft 69/ 2005