Occupy Mammon. Das Ende der Konkurrenzwirtschaft

Wilhelm Neurohr

Der 15. Oktober 2011 wird in die Geschichtsbücher eingehen, nachdem in 82 Ländern dieser Welt über 20 Millionen Menschen in fast 1000 Städten gegen die Macht der Finanzmärkte zeitgleich auf die Straßen gegangen sind. Nur vier Wochen nach den anfänglichen Protesten an der New Yorker Wallstreet ist eine weltweite Protestbewegung vor allem junger Menschen gewachsen, übrigens die größte in der Menschheitsgeschichte: Eine halbe Million Menschen alleine in Rom, jeweils Hunderttausende in anderen Städten und Ländern, Zigtausende in deutschen Städten.

Die soziale Funktion des Geldes ist verloren gegangen

Weltweit erkennen die Menschen infolge der anhaltenden und chaotisch verlaufenden Finanz- und Wirtschaftskrise, die sich immer weiter zuspitzt, dass die soziale Funktion und Qualität des Geldes verlorengegangen ist – zum Schaden aller. Zugleich schwindet die politische und demokratische Einflussmöglichkeit auf diese bedrohliche Entwicklung.

Die weltweit vagabundierenden Geldströme werden immer größer, die Kurse an den Aktien- und Devisenmärkten reagieren immer verrückter und die Notenbanken bekommen Geldmenge und Kaufkraft nicht in den Griff. Die vermeintlich freie Marktwirtschaft ist infolge der politischen Deregulierung der Finanzmärkte zu einer Art Finanzmarktdiktatur ausgeartet.

Revolution des Bewusstseins in der Zivilgesellschaft

Trotz jährlicher Steigerung der Wirtschaftsleistungen und des konzentrierten Reichtums sind die Menschen mit immer größerer Verschuldung, Armut und Arbeitslosigkeit konfrontiert. Derweil haben die Eliten in Politik und Wirtschaft keine erkennbaren Alternativen vor Augen, sondern hilflos und aufgeregt möchten sie den neuen Herausfor­derungen mit altem Denken und Handeln begegnen. Die Forderungen der weltweit protestierenden Demokratie- und Sozialbewegung gehen deshalb in Richtung Gemeinwohl-Ökonomie statt Konkurrenzwirtschaft, gegen Geldgier und Sozial­darwinismus als gültiges Wirtschaftsprinzip. Die zivil­ge­sellschaftliche Bewegung, die nach politischer Partizipation und Mitverantwortung strebt, ist den Eliten um einiges voraus. Eine Revolution des Bewusstseins steht bei den politischen und wirtschaftlichen Eliten noch aus, deshalb riskieren sie in ihrem Beharren im alten System die Zuspitzung der Protestbewegung zu einer wahren Revolutions­bewegung. Das derzeitige Chaos an den Finanzmärkten droht in ein politisches Chaos auszuarten. Deshalb sind viele Menschen bestrebt, das gemeinschaftliche Schicksal selber in die Hand zu nehmen und Mitverantwortung zu übernehmen; insbesondere die Jugend ahnt, dass es auch um ihre Zukunft geht.

Die Jugend begehrt gegen den »Gott Mammon« auf

Stürzt die Bewegung den Gott Mammon von seinem Thron? Mahatma Gandhi hatte schon lange vor der späteren Fixierung Europas auf konkurrierende Finanz- und Binnenmärkte erkannt und formuliert: »Europa ist nur dem Namen nach christlich. In Wirklichkeit betet es den Mammon an.« Diese Beherrschtheit vom Mammon schafft die unsägliche Kluft zwischen arm und reich, gefährdet die Demokratie und das Gemeinwohl, behindert die Solidarität und die Freiheit der Individuen, verstößt gegen die Menschenrechte und Menschenwürde. Und sie zerstört die Zukunft junger Menschen sowie die Umwelt und diesen Planeten. Eine scheinbar »unpolitische« Jugend hat dafür ein sicheres Gespür entwickelt und begehrt auf, und mit ihr auch die älteren Generationen. Auf eine nur vorübergehende und wieder abklingende Erscheinung sollte vorerst niemand hoffen. Nichts wird mehr so sein wie vorher. Von der bloßen Empörung ist die zivilgesellschaftliche Protestbewegung mit sozialer Phantasie längst zu kreativen Gestaltungsideen übergegangen. Der versteckte Ruf nach Entflechtung statt Verbrüderung von Politik und Wirtschaft und nach kultureller Befreiung von den Zwängen der Finanzwirtschaft ist aus der neuen sozialen Bewegung geradezu herauszuhören, als Ansatz für eine veränderte Sozialordnung.

Die politischen Repräsentanten vertreten nicht die Interessen der Mehrheit

Die Menschheit steht nicht nur vor einer Finanz- und Wirtschaftskrise, sondern auch vor einer Krise der parlamentarischen Demokratie. »Ihr repräsentiert uns nicht«, lautet deshalb der berechtigte Vorwurf der Protestbewegung. Ihr Schicksal und ihre Zukunft selber in die Hand zu nehmen, dazu haben sich im Zuge der Protestbewegung Millionen Menschen aufgerafft. Das alleine lässt auf Veränderungen hoffen, wie sie diese Welt noch nicht erlebt hat.

Die Anbetung der grenzenlosen Freiheit der Märkte hat die Welt an den Rand des Ruins gebracht und das Ende der kapitalistischen Epoche eingeläutet, das erkennen inzwischen selbst diejenigen deutschen und europäischen Politiker, die sich seit den 1990er Jahren dem Neoliberalismus verschrieben hatten und die Deregulierung der Finanzmärkte nach Beratung durch maßgebliche Bankmanager und Börsianer maßgeblich mit vorantrieben. Sie zeigen neuerdings Verständnis für die aufkommende Protestbewegung, be­raten aber zeitgleich systemerhaltende statt -verändernde Maßnahmen. Öffentlich wird erklärt: Der Raubtier-Kapitalismus müsse ein zweites Mal gebändigt werden – als sei er schon einmal gebändigt worden. Die notwendigen Rahmenbedingungen für eine gemeinwohlorientierte Wirtschaft sind nicht wirklich im Bewusstsein.

Die mehrheitlichen Interessen der Menschen, die zunehmend verarmen und sich auch privat verschulden müssen, sind ebenso wenig im Bewusstsein wie die Interessen der Staatengemeinschaften und der Kommunen, die sich systembedingt weiter exorbitant verschulden, obwohl Schuldenabbau propagiert wird. Auf diese Widersprüche und Missstände weist die Occupy-Bewegung hin.

Wie lernfähig sind die Beteiligten?

Seit Beginn der Finanzkrise 2008 gibt es solche Lippen­bekenntnisse, ohne dass es zu einer wirklich wirksamen Regulierung der Finanzmärkte kam, wie seinerzeit einhellig angekündigt. Vielmehr hat die deutsche Finanz- und Ver­sicherungswirtschaft den politischen Parteien kräftig mit Geldspenden gedankt, wie den Veröffentlichungen der Bundestagsverwaltung zu entnehmen ist. Auch blieb nach Recherchen von Nichtregierungsorganisationen die Bundesrepublik Deutschland als »Steuerparadies« für die Finanzwelt auf den vorderen Rangplätzen der 73 bedeutendsten »Schattenfinanzplätze«. Zudem profitieren deutsche Kreditinstitute von der Kapitalflucht aus Krisenländern der Eurozone wie Griechenland und sind Mitverursacher der dortigen Probleme. Die »Diktatur der Finanzmärkte« wurde demzufolge nicht eingeschränkt; das »Spielcasino« blieb munter und nahezu ungehindert weiter geöffnet, weil die handelnden Personen und herrschenden Ideologien die gleichen blieben. In funktionierenden Demokratien sollte hingegen politisches Versagen eigentlich zu Abwahl oder Rücktritt führen. In unseren demokratischen Systemen können Parteien zwar abgewählt werden, aber damit ist offenbar immer noch nicht die gemeinwohlschädigende neoliberale Politik abgewählt, die ganz offensichtlich von der nächsten Parteienkonstellation unverdrossen fortgeführt wird. Die im richtigen Handeln sichtbare Lernfähigkeit hält sich jedenfalls in Grenzen. Darum bedarf es der zivilgesellschaftlichen Protestbewegung – und des Bewusstseinswandels und der Verhaltensänderung aller am Wirtschaftsleben Beteiligten. Ohne eine Neubesinnung auf die eigentliche Funktion des Geldes für das Wirtschaftsleben gibt es keine Verbesserung der sozialen Verhältnisse. Vermehrbares Geld als Handelsware und die Gier haben nach ihrem Zerstörungswerk ausgedient.

In immer mehr jungen Menschen lebt eine soziale und mitfühlende Gesinnung – ein Bewusstsein der gegenseitigen Abhängigkeit und Verbundenheit der gesamten Menschheit. Dafür wollen sie Verantwortung übernehmen. Das unterscheidet die Protestierenden von den marktbeherrschenden Finanzjongleuren und denjenigen lobbyhörigen Politikern, die nicht begreifen, dass sie mit ihrem Finanzgebaren für Hunger, Leid und Elend in der Welt die maßgebliche Mitverantwortung tragen. In diesen bewegten Zeiten wird offenbar, wer auf welcher Seite steht.

Zum Autor: Wilhelm Neurohr (Jahrgang 1951), Dipl-Ing. für Städtebau und Landesplanung, Personalratsvorsitzender und Agenda-21-Beauftragter der Kreisverwaltung Recklinghausen, in verschiedenen sozialen und zivilgesellschaftlichen Initiativen tätig sowie in anthroposophischen Zusammenhängen (Netzwerk soziale Dreigliederung), Buchautor und Veröffentlichung zahlreicher Aufsätze sowie Vorträge zu sozialen und ethischen Fragen; zwanzig Jahre lang Waldorf­vater (von 1984 bis 2004) und in Elterninitiativen an der Gründung von Waldorfeinrichtungen beteiligt, verheiratet mit einer Waldorflehrerin.