Klassenzimmer

Bildung für Nachhaltige Entwicklung: Eine Standortbestimmung

Gunter Keller
Agenda 2030 mit ihren 17 Zielen

Wenn wir heute aufmerksam unsere Welt und das globale Zeitgeschehen verfolgen, wird uns immer mehr bewusst, dass wir vor großen gesellschaftlichen Herausforderungen und Veränderungen stehen. Sie betreffen die lokale, nationale, europäische und globale Ebene. Dabei geht es um die Zukunftsfähigkeit unseres Planeten und damit auch um die Zukunftsfähigkeit der Menschheit. Es geht darum, ob wir eine Lebensweise entwickeln können, die sorgsam, sparsam und rücksichtsvoll mit unseren Ressourcen umgeht oder nicht.

Die Transformation wird alle Bereiche unserer Gesellschaft erfassen, unsere Wirtschaft, die Art und Weise wie wir produzieren und Dinge verbrauchen, aber auch unsere Politik und wie wir zusammenleben. Auch unsere kulturellen Werte, unsere Bildung und unsere Vorstellungen von einem guten Leben werden sich verändern müssen. Was ansteht – wir sind schon mitten drinnen – kann in Anlehnung an Karl Polanyi als »Great Transformation« (Polanyi 2017) bezeichnet werden. Viele Menschen sind sich dessen schon lange bewusst und haben immer wieder auf die nötigen Veränderungsprozesse hingewiesen.

  • Ein erster Meilenstein zu einem veränderten Bewusstsein wurde vor 50 Jahren, nämlich 1972 durch den Bericht des Club of Rome mit dem Titel »Grenzen des Wachstums« gesetzt (Meadows et al. 1972).
  • 1987 wurde in dem sogenannten Brundtlandbericht die Formel »Nachhaltige Entwicklung« geprägt (WCED 1990).
  • 1992 verabschiedete die UN-Konferenz in Rio de Janeiro die Agenda 21.
  • 2002 startete der Rio+10 Gipfel in Johannesburg den »Marrakesch-Prozess« zu nachhaltigem Konsum und nachhaltiger Produktion.
  • Einen der wichtigsten Schritte in der globalen Agenda für nachhaltige Entwicklung stellt das Jahr 2015 dar. Hier ist die Klimakonferenz in Paris zu nennen, in der die Reduktion der Erderwärmung auf deutlich unter 2 Grad – möglichst 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Stand – als verbindliches Ziel festgelegt wurde.
  • Ein weiteres bedeutendes Ereignis ist die Verabschiedung der Agenda 2030 mit ihren 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung mit 169 Unterzielen.

Da hier nicht auf alle 17 Ziele eingegangen werden kann, möchte ich stellvertretend einige herausgreifen, die uns in den Industrieländern besonders betreffen.

  • Ziel 13 bedeutet, dass wir versuchen, alles dafür zu tun, den Klimawandel aufzuhalten, so dass wir das 1,5-Grad-Ziel erreichen (oder möglichst unter 2 Grad Erwärmung bleiben).
  • Ziel 7 bedeutet für uns, dass wir uns mit Energie versorgen, die CO2-neutral ist, um damit das Klimaziel erreichen zu können. Das wird eine Umstellung des Energiesektors auf erneuerbare Energien zur Folge haben.
  • Ziel 12 bedeutet, dass wir die Art und Weise, wie wir produzieren und konsumieren, ändern müssen. Wir werden Produkte länger nutzen, sie reparieren und uns von der Konsum- und Wegwerfgesellschaft verabschieden.

Was uns bevorsteht, ist eine Transformation, die unsere Haltung, Werte, Normen, Vorstellungen, Gedanken, Gefühle und Handlungen verändern wird. Der Philosoph und Historiker Kwame Anthony Appiah hat versucht, den Verlauf von moralischen Revolutionen (Transformationen) zu beschreiben und fünf Schritte unterschieden (Appiah 2011, S. 9):

1. Phase: Ignoranz, wir sehen das Problem nicht: Es gibt keinen Klimawandel.
2. Phase: Wir erkennen das Problem, stellen aber keinen persönlichen Bezug her. Es gibt einen Klimawandel, aber er hat nicht mit mir zu tun.
3. Phase: Wir erkennen, dass unser Verhalten Teil des Problems ist. Wir tragen zum Klimawandel bei und stellen Überlegungen an, was wir tun können.
4. Phase: Wir beginnen zu handeln und verändern uns und unsere Welt.
5. Phase: Rückblick auf den Prozess der Transformation und Unverständnis, warum es so lange gedauert hat, etwas zu verändern.

Die fünf Phasen von Appiah sind deswegen so wichtig, weil sie zeigen, dass eine große Transformation in ein nachhaltiges Zeitalter mit jedem einzelnen Menschen zu tun hat und Veränderungen bei jedem Einzelnen beginnen müssen.

Bildung für Nachhaltige Entwicklung und Waldorfpädagogik- Eine Standortbestimmung

1. Methodische Gesichtspunkte

Der Waldorfpädagogik liegen mehrere Prinzipien zu Grunde, von denen ich hier vier anführen möchte, die mit dem Thema Bildung für eine nachhaltige Entwicklung zu tun haben.

1) Das Verhältnis des Menschen zur Erde: Grundsätzlich wird in der Waldorfpädagogik der Mensch als Teil der Erde verstanden, was in der Formel Mikrokosmos-Makrokosmos zum Ausdruck kommt. Damit ist das Zusammengehören von Mensch (Mikrokosmos) und Erde (Makro­kosmos) gemeint (Steiner 1999). Es schließt einen achtsamen Umgang mit der Natur ein (Keller 2011).

2) Anteilnehmende Erkenntnistheorie: Neben dem Wissenserwerb geht es in der Waldorfschule vor allem darum, Dinge, Prozesse und Lebewesen ganzheitlich zu erfassen, sich mit den Lerninhalten tiefgründig zu verbinden und ein umfassendes und anteilnehmendes Verständnis zu erwerben (Steiner 2011). Im Zusammenhang damit ist auch die Lernmethode Schluss – Urteil – Begriff zu nennen (Steiner 1992, S. 133 ff).

3) Beim Verstehen der Welt soll auch das Gefühl der Lernenden geschult und mit einbezogen werden, um so ein gefühlsgetragenes Verständnis zu ermöglichen. Ziel ist die Schulung von emotionaler Intelligenz und der Fähigkeit eines ästhetischen Empfindens und Mitempfindens. Sie begründet die außerordentliche Stellung der Kunst im Curriculum der Waldorfpädagogik (Keller 2015).

4) Handlungskompetenz: Wenn man Dinge erkannt hat und verändern will, braucht man Begeisterungsfähigkeit, Wille und Durchhaltevermögen. Die Willensschulung ist elementarer Bestandteil der Waldorfpädagogik und findet ihren Ausdruck in vielfältigen Projekten, Praktika sowie praktischen und künstlerischen Fächern, bei denen es neben den zu lernenden Inhalten und Fertigkeiten immer auch um das Beginnen, Durchhalten und Fertigstellen geht.

Fasst man die vier genannten Gesichtspunkte zusammen, hat man das umschrieben, was mit Erziehung zur Freiheit und dem Begriff »ethischer Individualismus« gemeint ist. Es ist die Fähigkeit, sich selbständig Erkenntnisse zu erwerben, ein ästhetisches Fühlen auszubilden, Perspektivwechsel zu vollziehen und damit die Welt aus der Sicht anderer sehen, entsprechend handeln und Verantwortung übernehmen zu können. Dies schließt die Ausbildung von Werten und Moral mit ein und die Möglichkeit, ein authentisches Leben ohne Doppelmoral zu leben (Steiner 1987, Keller 2010).

2. Inhaltliche Gesichtspunkte

Die vier methodischen Gesichtspunkte haben dazu geführt, dass sich das Curriculum der Waldorfschulen in einigen Bereichen erheblich von anderen Schulen unterscheidet. Neben den klassischen Fächern kommen eine Vielzahl von künstlerischen und praktischen Fächern sowie Praktika hinzu. Dabei sind als bestimmende Prinzipien eine ganzheitliche und auf Nachhaltigkeit zielende Pädagogik klar erkennbar.

Die folgende Tabelle bietet eine Übersicht von Inhalten, Themen und Projekten, die der Bildung für nachhaltige Entwicklung zugeordnet werden können und die in vielen Waldorfschulen Praxis sind. Die Auflistung ist exemplarisch, nicht erschöpfend.

Klassenstufe 

1 – 3

• liebevolle Wahrnehmung der natürlichen Umgebung, Epoche vom Korn zum Brot, Handwerksepochen mit tätiger Verbindung zur Welt

4 – 5

• Menschenkunde, Tierkunde, Pflanzenkunde

• Naturverbundenheit: künstlerische Auseinandersetzung

6 – 8

• Gartenbau

• Werken

• In der Geschichtsepoche zur Entstehung der modernen Zivilisationen:

  • Blick auf die Anfänge der Umweltzerstörung durch Industrialisierung und die Verbindung zur augenblicklichen Situation

• Eigene Projekte entwickeln, die im Rahmen der Jahresarbeiten oder einem gesonderten Projekt bearbeitet werden

• Wissen der indigenen Völker und eines nachhaltigen Lebensstils

• Ernährungslehre

• Naturverbundenheit: künstlerische Auseinandersetzung

• Forstpraktikum

9 – 10

• Im Zusammenhang mit der Physikepoche:

  • Moderne Verkehrssysteme und Transportmittel und ihre CO2-Bilanz

• Betreuung der Energieanlage der Schule

• Die Erde als Ganzes

• Ozeanographie und Klimatologie

• Naturverbundenheit: Verstärkte, wahrnehmende Verbindung durch künstlerische Prozesse

• Landwirtschaftspraktikum

11 – 12

• Energie und Wärmeverbrauch und CO2-Bilanz

• Klimageschichte und Klimawandel

• Globalisierungsepoche

• Ethischer Individualismus durch künstlerische Auseinandersetzung

• Projekte im Rahmen z.B. der Jahresarbeiten

Ein erstes Fazit

Grundsätzlich kann man sagen, dass die Waldorfschulen bewusst mit dem Thema Mensch und Umwelt umgehen und sich schon lange einer nachhaltigen Entwicklung verpflichtet fühlen. Das gilt nicht nur für die ökologische, sondern auch für die ökonomische, soziale und kulturelle Nachhaltigkeit. Allerdings wurde historisch der Begriff Nachhaltigkeit nicht unbedingt verwendet, sondern eher Bezeichnungen wie »menschlicher Umgang oder »ein der Erde, den Pflanzen und Tieren fördernder Umgang«.

Dabei verfügt die Waldorfbewegung nicht nur über das methodische Rüstzeug (Verhältnis zur Erde, anteilnehmende Erkenntnistheorie, ästhetisches Wahrnehmungsvermögen und Handlungskompetenz), sondern auch über ein entsprechendes Curriculum, um sich sinnvoll an der Transformation hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft zu beteiligen.

3. Herausforderungen

Wichtig ist aber auch, zu verstehen, dass die Industrienationen und damit auch wir einen erheblichen Beitrag zum Klimawandel, der Umweltzerstörung, der Verschmutzung der Meere etc. leisten. Wir als Individuen tun das nicht direkt und vielleicht auch nicht bewusst. Trotzdem müssen wir uns eingestehen, dass die negativen Wirkungen von der Art und Weise ausgehen, wie wir leben, wie wir konsumieren, von unserem Bedürfnis nach Mobilität, unserer Lust zu reisen und der Art, wie wir uns ernähren.

Trotz all unserem Wissen und unserer Entwicklung ist es uns bisher kaum gelungen, unsere Situation und die der Erde, ihrer Ökosysteme und Lebewesen zu verbessern. Technische Entwicklungen und Innovationen wurden meist durch einen höheren Konsum kompensiert.

Es genügt also nicht, nur in neue Technik zu investieren, sondern wir brauchen eine wirkliche Transformation zu anderen Lebensstilen.

Dafür müssen wir uns vor allem in sieben Bereichen verändern, hier als sieben Wenden dargestellt.

Ziel muss es sein, dass die Waldorfschulen zu diesen sieben Wenden einen wesentlichen Beitrag leisten. Wir müssen jetzt alles dafür tun, dass wir die Transformation in eine nachhaltige Zukunft unterstützen und unsere Schüler:innen dazu befähigen, den eingeschlagenen Weg weiter zu beschreiten. Es werden noch erhebliche Anstrengungen und Veränderungen nötig sein, die sowohl unser Curriculum als auch unsere Auffassung von einem guten Leben betreffen.

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