Weltwissen für Waldorfschüler

Markus Stettner-Ruff

Drei große Aufgaben haben unsere Schulen heute: Sie sollen Weltbürgertum denken und fühlen lehren, Multikulturalität vorleben und zeigen, wie man als Kosmopolit und Deutscher Mittler zwischen Ost und West sein kann. Wie können diese Aufgaben angegangen werden? Ein Ansatzpunkt ist die Sprache, vor allem der Fremdsprachenunterricht.

Milenko Kaukler, Gründungslehrer und erfahrener Fremdsprachenpädagoge unserer Schule, beschreibt in einem 1994 veröffentlichten Aufsatz, wie die Muttersprache den Charakter eines Menschen prägt. Sie beeinflusst sein Verhältnis zur Welt, seine Weltsicht, seine Weltanschauung und zwar »nur« von einem bestimmten Standpunkt aus.

Kaukler schreibt: »So verdankt der Mensch in den ersten Lebensjahren der Muttersprache, dass sie ihn überhaupt in die Welt führt und lebensfähig macht. Aber späterhin legt sie ihn auf ihre Sicht der Welt fest, ohne dass er dies überhaupt bemerken kann. Er wird, ihm unbewusst, zum geistigen Gefangenen der Muttersprache, zum praktischen (nicht ideologischen!) Nationalisten.«

Was kann man tun, um dieser einseitigen Prägung zu entrinnen, fragt Kaukler weiter. Seine Antwort ist naheliegend: Er lernt eine Fremdsprache. Denn die Seele lernt Fremd­­artiges verstehen, gar lieben, wenn sie der Routine der Mutter­sprache entrissen wird. »Das Ich gewinnt Freiheit«, so Kaukler. Weil diese Freiheitsliebe in der ganzen Menschheit erwacht sei, müsse sich das Fremdsprachen­lernen so weit und so rasch ausbreiten. Seine Überlegungen gipfeln in der Aussage: »Der Mensch lernt die Sprache fremder Völker aus Liebe zum eigenen Ich!« Durch diese Selbstbefreiung von seinen nationalen Eigenheiten, kann er sich mit den Angehörigen der anderen Völker zusammenschließen. Er wird Weltbürger.

Wie man sich eine Sprache stufenweise aneignet

Wenden wir uns zunächst dem Aufbau des Sprachunterrichts in den verschiedenen Altersstufen zu. Über wiederholenden Rhythmus, Gesang, Sprechen und Bewegung in der Unterstufe, durch Lieder, Reime, Tänze, Geschichten und Spiele verleibt der Schüler sich die Sprache geradezu ein. Man kann sagen: Sprache wirkt auf den Leib, ein Keim wird gelegt.

Dieser Keim wird dann in der Mittelstufe durch wiederholendes Sprechen, Singen, Lesen und Schreiben, erste Grammatik, Szenen und Theaterstücke weiter gepflegt und zur guten Gewohnheit. Der Träger dieses Keims wird in der anthroposophischen Menschenkunde als Ätherleib bezeichnet.

Diese Anlagen durch Üben, durch Gespräche, durch Grammatik, durch Vokabelnlernen, durch Textbearbeitungen und Übersetzungen zum Treiben, Blühen und Reifen zu bringen, damit sie am Ende der Schulzeit, vor allem aber im späteren Leben Früchte tragen, das ist die Aufgabe der Oberstufe. Die Sprache blüht nun auf in allem seelischen Schaffen.

Und plötzlich platzt der Knoten

Welche Ziele kann nun der Fremdsprachenunterricht haben? Eine Fremdsprache dient dazu, mit anderen Menschen und anderen Kulturen Kontakt aufzunehmen. Sie hilft uns, eine globalisierte und multikulturelle Welt bewusst zu gestalten. Dazu braucht es ein Interesse an der Welt. Die Sprachen und Kulturen müssen körperlich, seelisch und geistig erfasst werden. Das bloße Handwerkszeug von Wortschatz und Grammatik reicht dazu nicht aus. Es bedarf der Gelegenheit, erlebend in eine Sprachkultur einzutauchen.

Wie könnte dies besser gelingen als vor Ort, im Alltagsleben der Menschen in anderen Ländern und Kulturen? Die im Unterricht angelegten Fähigkeiten entfalten sich fast von alleine, wenn die Jugendlichen am Leben einer fremden Kultur teilhaben.

Das zeigt die Erfahrung der Austauschschüler unserer Schule und ihrer Partnerschulen. Plötzlich platzt der Knoten: Die Schüler sprechen problemlos Russisch oder Englisch. Die Form des Fremdsprachenunterrichtes in der Unter- und Mittelstufe hat den Grund dafür gelegt, dass sie in den Sprachgeist der Kulturen eintauchen können, sich in ihnen daheim fühlen, ja, dass sie fast Russen oder Engländer werden und in der anderen Sprache träumen.

Mehr Auslandsaufenthalte statt mehr Unterricht

Schon in der Mittelstufe, noch mehr aber in der Oberstufe, leiden die Schüler unter einer enorm hohen Wochenstundenzahl. Ein entscheidender Faktor sind dabei die Sprachen. Wenn die Prüfungen nahen, werden die Sprachlehrer immer nervöser und fordern mehr Stunden für ihre Fächer. Doch immer wieder wird uns von außen, aber auch von unseren Eltern und Schülern gespiegelt, dass Aufwand und Ertrag des Sprachunterrichts an unseren Schulen in keinem Verhältnis stehen. Die Fähigkeiten unserer Schüler seien im Vergleich zu den Schülern an Regelschulen oder anderer freier Schulen eher mäßig. Meiner Beobachtung nach ist für die allermeisten Schüler der Auslandsaufenthalt der entscheidende Faktor, der das ändert, nicht mehr Unterricht.

Ich plädiere deshalb dafür, den Auslandsaufenthalt auszubau­en, ihn als einen Teil des Oberstufenprofils in den Lehrplan aufzunehmen und jeden Schüler dazu zu verpflichten. Jeder Schüler sollte während seiner Oberstufenzeit mindestens einen längeren Aufenthalt in dem Land absolvieren, dessen Sprache er lernt. Zweisprachler also mindestens zwei.

Um das realisieren zu können, müssen wir Kontakte aufbauen und bestehende intensivieren, insbesondere im russisch-, englisch-, französisch- oder spanischsprachigen Raum.

Praktika und Fremdsprachenlernen verknüpfen

Einen möglichen Ansatz sehe ich in der Verknüpfung mit den Praktika, insbesondere dem Sozialpraktikum. Verlängerte Auslandsaufenthalte im Rahmen des Landwirtschafts- und/oder Sozialpraktikums, auch eines zu etablierenden Berufserkundungspraktikums, halte ich für organisier- und finanzierbar.

Es bietet sich auch an, Sozialkunde, Geschichte und Gemeinschaftskunde oder Geographie mit Auslandsaufenthalten zu verknüpfen. Würden Aufenthalte und Praktika intensiv vor- und nachbereitet, könnte der normale Unterricht bereichert, vor allem aber entlastet werden.

Und vor allem: auch die Kollegen können was Spannendes tun!

  • Sie können Kollegen im Ausland ansprechen, um Schüleraustausche zu organisieren und Praktikumsplätze zu organisieren.
  • Sie können Reisen, Praktika, Austausche in Zusammenarbeit mit Sprachlehrern und Klassenbetreuern koordinieren.
  • Sie betreuen die Schüler während der Praktikums- und Schüleraustauschzeit im Ausland sowie die Schüler in den Partnerschulen.
  • Sie sind Ansprechpartner für Eltern und Schüler sowie für Menschen und Partner aus den anderen Ländern.

Schüler und Eltern müssen mit ins Boot

Schüler und Eltern müssen unbedingt beteiligt werden an dieser Arbeit. Denken wir allein an die Frage des Aufbaus einer Infrastruktur von Familien, die regelmäßig Gastschüler aufnehmen. In unserer Kooperationsvereinbarung mit unseren drei Partnerschulen im Osten finden sich folgende Sätze: »Um diese Ziele nachhaltig und lebendig zu verwirklichen, gründen wir einen Freundes- und Förderkreis Schulpartnerschaften, der die Kooperationen ideell und organisatorisch trägt und begleitet. Der Kreis wird von Freunden, Eltern, Schülern und Lehrern der Freien Waldorfschule gebildet.« Bis heute ist dieses Ziel bei uns nicht verwirklicht.

Wirkliche Weltbürgerschaft

Es liegt an uns, ob es gelingt, den Fremdsprachenunterricht als Möglichkeit zu nutzen, kosmopolitisches Denken und Fühlen in den Seelen der jungen Menschen zu verankern. Es ist nicht übertrieben zu vermuten, dass durch bewusst gestaltete soziale Prozesse in einem Netzwerk der Kontakte der Keim zu einer freien, gerechten und brüderlichen Welt, zu wirklicher Weltbürgerschaft liegt.