Mozart ist nicht dazu da, schlau zu machen!

Holger Kern

Die Diskussion um die Rolle der Künste im Bildungswesen leidet am Nützlichkeitsdenken, aber auch an dem Unverständnis den Wandlungskräften gegenüber, die in den Künsten liegen und den Menschen verändern. Einerseits werden sie unter dem Titel »Ästhetische Erziehung« schnell zu einer vorwiegend intellektuellen Beschäftigung mit bereits geschaffenen Geistesprodukten degradiert – besonders in der Musik. Andererseits – spätestens seit Hans Günther Bastians Langzeitstudie über die Wirkungen der musikalischen Erziehung – werden zunehmend die Transfereffekte der künstlerischen Beschäftigung in den Fokus gerückt.

Bastian stellt in seiner Untersuchung an Berliner Grundschulen unter anderem fest, dass ein ausgeweiteter Musikunterricht nicht nur eine Stundenreduktion im Deutsch- und Rechenunterricht ausgleichen kann und andere positive Effekte im Sozialen zeigt, sondern auch die Denkleistung insgesamt positiv beeinflusst. Seine Ergebnisse schienen die amerikanischen Untersuchungen zu dem sogenannten Mozart-Effekt zu bestätigen, die einen Zusammenhang zwischen dem Hören klassischer Musik und dem räumlichem Vorstellungsvermögen herstellen.

Inzwischen liegen zwei große Metastudien zu den Transfereffekten von Christian Rittelmeyer und Anne Bamford vor, die die früheren Studien teils bestätigen, teils aber einen solchen »Nutzen durch Kunst« relativieren.

Trotz der Freude über den Nachweis der Transfereffekte schließe ich mich Rittelmeyers Urteil an, dass es dennoch nicht um einen sogenannten Nutzen der Kunst gehen sollte, da sie an sich schon der Nutzen ist. Mozart ist eben nicht dazu da, schlau zu machen! Auch das Bundesministerium für Bildung stellt in einer Expertise fest: Ziel ist nicht die Förderung kognitiver Kompetenzen durch Musik! Was hier für die Schul-Pädagogik gilt, darf aus Erfahrung und aus Überlegung auch für die Lehrerbildung als gültig ange­sehen werden.

Unverzichtbare Kunst

Bei den Studierenden trifft man häufig auf den Wunsch, ganz konkret das passende praktische Handwerkszeug, die besten Methoden zu lernen. Diesem verständlichen Wunsch kommt man oft mit einer utilitaristischen Unterweisung in den Künsten entgegen, da man doch als Lehrkraft mindestens in den unteren Klassen mit den Kindern singt oder malt. Ohne die künstlerische Übung als Bildungsmittel geht diese Form von Lehrerbildung jedoch am Wesentlichen vorbei: an dem künstlerischen Prozess als einem Grundbedürfnis des Menschen und an seiner Wirkung auf den ganzen Menschen, auf dessen Bildung und Selbstverwandlung. Nur durch den Übprozess bekommt die künstlerische Bildung die ihr angemessene Bedeutung. Sonst werden die Künste zum erholsamen »Nebenfach« degradiert. Jeder, der sich im Künstlerischen geübt hat, aber leider auch nur der, der solcherlei Übung selbst erlebt hat, weiß, dass sie intensivste Wirkungen im ganzen Menschen hervorruft.

Kunst harmonisiert

In der Waldorfpädagogik wird der ganze Mensch betrachtet – als leibliches, seelisches und geistiges Wesen. In dieser Anschauungsweise sind für den wahrnehmenden und handelnden Weltbezug des einzelnen Menschen die drei Seelenfähigkeiten des Denkens, Fühlens und Wollens ausschlaggebend.

Sie stellen Verbindungen zwischen dem Geistigen und dem Physischen dar, aber auch her, so dass der Mensch an sich als ein vermittelndes Wesen auf der Welt, als »Bürger zweier Welten« wahrnehmbar wird. In der Mitte dieser Seelenfähigkeiten steht als verbindendes Element das Fühlen. Zum Beispiel kann man sich Gedanken leichter merken, wenn damit Gefühle verknüpft sind. Andererseits wird ein Gedanke oder Wunsch erst dann in eine Handlung münden, wenn im Gefühlsleben eine Regung, eine Sehnsucht oder eine Vorahnung erlebt wird.

Das Fühlen und Erspüren im Wahrnehmen, wie auch das erahnende Tasten in den eigenen Denkbewegungen oder Willensimpulsen steht im Zentrum der realitätsbezogenen Wahrnehmungen der Welt und der schöpferischen Wirkungen in sie hinein.

Hier stehen wir vor Voraussetzungen der Beziehungsfähigkeit. In der Waldorfpädagogik nehmen die Künste deshalb eine solch zentrale Stellung ein, weil in ihnen die Beweglichkeits-, Verbindungs- und Harmonisierungskräfte, aber auch jene Kräfte verborgen liegen, die aus rein ideellen Motiven Begeisterung wecken können. Zu diesen Kräften finden wir Zugang durch die Künste. Im Üben der Künste werden diese Kräfte gestärkt, geschult und geformt.

Sich in den Künsten zu üben, bedeutet, die Mitte des Menschen zu stärken, den Moment zu meistern, bedeutet, sich auf das Unbekannte, Unerwartete einzulassen. Der künstlerische Moment ist – wie das Kinderspiel – ganz Gegenwart, wenn die gedankliche, intellektuelle Vorstellung einer Handlung fallen gelassen wird und geistesgegenwärtige Entscheidung das Ruder ergreift. Die künstlerische Haltung und Disposition ist als Anlage zutiefst im Menschen verankert, bedarf aber der Bildung.

Auf der anderen Seite lebt aber gerade das Gelingen der pädagogischen Arbeit in allen Bildungszusammenhängen von den Momenten der schöpferischen Geistesgegenwart und der Beziehungsfähigkeit.

Die bildende Wirkung des Künstlerischen muss im erzieherischen Prozess über die bloße Entwicklung eines Sinns für Ästhetik, aber auch über die Transfereffekte und den Nutzen für Anderes weit hinausgehen.

Erst durch die Kunst, durch die künstlerische Fähigkeit wird der Mensch zum vollständigen Menschen, zu einem Wesen, das in Denken, Fühlen und Wollen sich selbst zu gestalten und zu verwirklichen vermag. So kann er auch angemessen auf Kinder wirken. Aber die Künste müssen sich dabei in ihrem Element bewegen können und dürfen nicht zum Betrachtungsgegenstand degradiert oder zum Zulieferer kognitiver Ergebnisse gemacht werden. Kunst um der Kunst willen!

Das ist keine Haltung beleidigter, sich von der Welt unverstanden fühlender Künstler, sondern Ausdruck und Notwendigkeit menschlichen Seins.

Literatur: Hans Günther Bastian: Kinder optimal fördern – mit Musik: Intelligenz, Sozialverhaltenund gute Schulleistungen durch Musikerziehung, Mainz 2001 | Christian Rittelmeyer: Warum und wozu ästhetische Bildung? – Über Transferwirkungen künstlerischer Tätigkeiten. Ein Forschungsüberblick, Oberhausen 2010 | Anne Bamford; Eckart Liebau, Anke Liebau: Der Wow-Faktor – eine weltweite Analyse der Qualität künstlerischer Bildung, Berlin 2010 | Ralph Schumacher; Eckart Altenmüller: Macht Mozart schlau? – Die Förderung kognitiver Kompetenzen durch Musik, Berlin 2006