Kleine Heimat – große Heimat

Christoph Göpfert

Erdkunde vor Ort

An der Geographie, die uns ja »erdenkundig« machen soll, lässt sich beispielhaft aufweisen, in welcher Geschlossenheit Rudolf Steiner den Lehrplan konzipiert hat. In der Mittelstufe werden Grundlagen gelegt, auf denen der Oberstufenlehrer aufbauen kann. Auch wird deutlich, wie gerade von der Erdkunde Anregungen bis in die Lebensgestaltung des Elternhauses ausgehen können – man denke nur an Geschenke, Ausflüge und Urlaubsreisen.

Schon in der Heimatkunde (4. Klasse) liegen solche Möglichkeiten: Was lässt sich da nicht alles entdecken an Altem und Modernem, an Einmaligkeiten der Heimatstadt! Vieles wissen die Kinder durch eigene Beobachtungen beizutragen, das im Unterricht in den größeren Zusammenhang eingeordnet wird. Der Schulort soll in seinen Geländeformen bis in den geologischen Untergrund erforscht werden. Das ist bereits ein Schritt hin zu einer »Geologischen Heimatkunde«, mit der später die Geologie-Epoche der 9. Klasse beginnen kann. Ein Glücksfall, wenn ein unregulierter Fluss in der Nähe mäandert oder ein Strom den Blick in die Welt öffnet. In der 10. Klasse lernen die Jugendlichen dann die Strömungsgesetze des fließenden Wassers bei der Behandlung der Hydrosphäre kennen.

Bei der wirtschaftlichen Betrachtung des Heimatortes – dieser Gesichtspunkt steht bis in die 6. Klasse im Vordergrund – braucht man nicht bei Landwirtschaft und Handwerk stehen zu bleiben, sondern kann auch heutige Berufsfelder vorstellen – gewissermaßen als eine Vorbereitung auf den Geschichtsunterricht in der 11. und 12. Klasse, in dem wirtschaftsgeographische Fragen zur Sprache kommen.

Von der Heimatkunde führt der nächste Schritt in der 5. Klasse nach Mitteleuropa als erweitertem Heimatraum. Man sollte dabei von Mitteleuropa als von einer Landschaft sprechen, nicht von einem staatlichen Gebilde. Dazu gehören Deutschland, die Schweiz, Österreich und Tschechien.

Geheimnisvolle Eifel-Maare

Methodisch wird man – Steiner folgend – stark in Polaritäten arbeiten, Hochgebirge und Meeresküsten gegenüberstellen und dann die verschiedenen Mittelgebirgstypen charakterisieren. Die gründliche Besprechung der Alpen bis in den geologischen Aufbau in Kalk- und Granitalpen schafft ein Fundament für alle späteren Begegnungen mit den tertiären Faltengebirgen der Erde, die in der 9. Klasse erarbeitet werden. Aber auch die deutschen Mittelgebirge weisen interessante Unterschiede auf: Es gibt alte Gebirgsrümpfe, die ursprünglich Faltengebirge waren und zu einem riesigen Faltengebirgssystem gehörten: Harz, Rheinisches Schiefergebirge, Schwarzwald, Vogesen und Böhmische Masse. Ganz anders das süddeutsche Schichtstufenland mit seinen Kalkfelsen und Tropfsteinhöhlen, die für Kinder manche Wunder bergen.

Dann der erloschene Vulkanismus mit den geheimnis­vollen Eifel-Maaren, der Rhön und den Vulkanschloten im Hegau, wo man sich mitten zwischen den Basaltsäulen bewegen kann. Alles, was mit dem Vulkanismus zusammenhängt, fasziniert die Schüler, auch noch in höheren Klassen – sie fühlen sich am Puls der Erde.

Einen anderen Reiz bietet der eiszeitliche Formenschatz in den Alpen und in Norddeutschland, der von den vielfältigen Bewegungen der Gletscher erzählt – ein reiches Feld für die kindlichen Vorstellungskräfte, das in der Oberstufe unter dem Gesichtspunkt der Kausalität durchgeackert wird. In der 5. und 6. Klasse aber kommt es darauf an, dass die Kinder die Tatsachen genau beschreiben können. Hilfreich ist es, wenn die Eltern den Kindern durch Ausflüge zu solchen »Geländeerfahrungen« verhelfen.

Für den methodischen Weg vom jeweiligen Heimatort nach »Mitteleuropa« bieten sich die Flussläufe als Lebensadern an. Dabei wird man die Phänomene des fließenden Wassers mit Stromstrich, Prall- und Gleithang gleich am Anfang zeigen. Die Mosel bietet dafür ein gutes Beispiel. Strömungsvorgänge sind den Fünftklässlern auch an Nord- und Ostsee bei Ebbe und Flut begegnet. Vielleicht findet man auch Zeit, so unterschiedliche Flüsse wie Rhein, Donau oder Elbe anzuschauen, so dass für die Kinder erlebbar wird, dass jeder Fluss einen ganz eigenen Charakter hat. Ein Blick auf das vom Fichtelgebirge ausstrahlende Gebirgskreuz mit seinen in die vier Himmelsrichtungen entwässernden Flüssen kann abschließend einen Eindruck geben, dass Mitteleuropa eine ausgeprägte Physiognomie besitzt. Das sollte als »gesättigtes« Vorstellungsbild sich den Schülern eingeprägt haben, wenn sie in die Oberstufe eintreten und in der 9. und 10. Klasse die Gesteins- und Wasserhülle der Erde als Teil des lebendigen Erdorganismus verstehen lernen.

Das Antlitz der Erde

In der 6. Klasse steht eine sogenannte Überblicksepoche im Mittelpunkt. Systematisch und in kurzer Zeit soll ein Bild der gesamten Erde mit allen Kontinenten und Ozeanen gegeben werden. Es ist erstaunlich, was die Schüler hierzu an einer Weltkarte oder auf dem Globus alles als »Antlitz der Erde« (Eduard Suess) entdecken: Anordnung, Form und Relief von Festländern und Meeren, den erdumspannenden Verlauf der jungen Faltengebirge, Tiefseerinnen, mittelozeanische Rücken und Grabenbrüche oder auch den Kreislauf der Meeresströmungen. Das alles sind Tatsachen, auf die der Oberstufenlehrer in der 9. und 10. Klasse gern zurückgreift, wenn er die Plattentektonik und die Strömungsverhältnisse in der Wasserhülle der Erde darstellt, um schließlich die Erde als Gesamtorganismus verständlich zu machen. Wenn es die Zeit erlaubt, kann der Lehrer an einer Nord-Süd-Durchquerung Afrikas die spiegelbildliche Anordnung der Landschaftsgürtel zeigen, wie sie für alle Erdteile gilt. Oder an Amazonas, Nil und Hwangho drei Flussindividualitäten schildern, die Großlandschaften prägen – auch das kann ein Beitrag zur systematischen Betrachtung der Erde sein.

Körpererfahrungen mit Kulturkreisen

Die übrigen Erdteile werden in der 7. und 8. Klasse unter kulturgeographischem Gesichtspunkt behandelt, was der 12. Klasse vorarbeitet, in der solche Fragen unter dem erweiterten Blickwinkel der heutigen politisch-gesellschaft­lichen Verhältnisse aufgegriffen werden. In der Mittelstufe sollen die Schüler zunächst anschaulich erleben, was die Unterschiede in Religion und Brauchtum, in den verschiedenen Künsten und handwerklichen Fähigkeiten, aber auch in Sprache und Schrift für die jeweiligen Völker bedeuten. Die Eigenheiten bestimmter Kulturkreise werden sichtbar, zum Beispiel des orientalischen, indischen oder schwarzafrikanischen Kulturraums. Hier können die Schüler auch praktisch arbeiten, so dass sie »Körpererfahrungen« mit den fremden Welthaltungen machen: mit Schriften, Tuschmalerei, Instrumentenbau …

Hinzu kommen Beispiele aus dem praktischen Leben der Menschen in bestimmten Landschaftstypen und Klimaten: Wie der Mensch mit der Regen- und Trockenzeit fertig wird, welche speziellen Wirtschaftsformen er entwickelt hat, etwa den Reisterrassenbau. Das gibt auch Raum für Referate und Klasseneltern-Nachmittage, und manches häusliche Gespräch kann dadurch angeregt werden. Die Sesshaftwerdung wird man für die 11. Klasse aufsparen.

Der Übergang zur Oberstufe

Der Übertritt von der Mittel- zur Oberstufe, das heißt von der Kindheit zum Jugendalter, spiegelt sich auch im Geographie-Unterricht in einer deutlichen Änderung des Blickwinkels. Bisher wurden einzelne, geschlossene Erdräume betrachtet, es wurde Länderkunde betrieben. Das weitet nicht nur den Horizont, sondern leistet indirekt einen wichtigen Beitrag zur Entfaltung der Individualität des Heranwachsenden, die sich ja im dritten Jahrsiebt vollzieht. Während im Deutsch- und Geschichtsunterricht Biographien das Interesse für das Besondere der menschlichen Persönlichkeit wecken sollen, tritt den Schülern in Geographie mit jeder Erdregion ein Stück einmalig geformter, »individualisierter« Erde entgegen. Dadurch wird ihnen in der Außenwelt gespiegelt, was sie selbst gerade seelisch durchmachen.

In der Oberstufe erfolgt eine Art Umstülpung in der Betrachtung der Erde als Ganzes. Die Weitung des Gesichtskreises entspricht dem Bedürfnis des Jugendlichen, der sich seelisch-geistig immer weiter entfaltet. Dabei überschreitet der Lehrplan der Klassen neun bis zwölf, wie er sich inzwischen herausgebildet hat, die vier »Hüllen« der Erde: in der 9. Klasse die Gesteinshülle (Lithosphäre), in der 10. Klasse Wasser- und Lufthülle (Hydro- und Atmosphäre), in der die Erde als Strömungsorganismus erscheint; in der 11. Klasse die menschlichen Daseinsformen, wie sie durch unsere leiblichen und seelischen Bedürfnisse bestimmt werden. In den sogenannten Überblicksepochen der 12. Klasse verbirgt sich in vielen Fächern die Frage nach dem Wesen des Menschen als selbstständige, verantwortliche Persönlichkeit, als Ich. Das entspricht der Entwicklungsphase des 18-Jährigen, der im Unterricht nach Antworten auf diese Frage sucht. Im Geographie-Unterricht der 12. Klasse tritt ihm noch einmal die ganze seelisch-geistige Vielfalt der Menschheit entgegen, wie sie sich in den verschiedenen Kulturkreisen heute darbieten, mit allen auch ungelösten politischen Problemen. Vielleicht kann sich dann in der Seele des Jugendlichen eine Ahnung davon bilden, dass die Erde als »Ich-Träger« veranlagt ist.

Die dargestellten Unterrichtsinhalte sind bereits im »Ur-Lehrplan« angelegt. Diese Angaben wurden dann von vielen Kollegen weiter ausgearbeitet. Ihre Fruchtbarkeit bewährt sich immer wieder. Die Aktualität eines Lehrplans ergibt sich also nicht nur aus seinen gesellschaftsrelevanten Inhalten. Sie entsteht auch und vor allem aus der Anbindung an die jeweilige entwicklungspsychologische Situation des Heranwachsenden. Im Erdkunde-Lehrplan der Waldorfschule zeigt sich das in zweifacher Weise: in der Mittelstufe in der Ahnung des Individuellen in der Welt und damit auch im Menschen, in der Oberstufe in einem wachsenden Erdenbewusstsein und im Erlebnis der sich festigenden Ich-Kraft, die zu eigenverantwortlichem Handeln drängt.

Literatur: R. Steiner: Methodisch-Didaktisches, 11. Vortrag, GA 294, Dornach 1990 | Chr. Göpfert: Menschenbildung durch Geographie, in: H. Neuffer (Hrsg.): Zum Unterricht des Klassenlehrers an der Waldorfschule, Stuttgart 1997, S. 669-728 | Chr. Göpfert (Hrsg.): Das lebendige Wesen der Erde. Zum Geographieunterricht der Oberstufe, Stuttgart 1999 | H.-U. Schmutz: Erdkunde in der 9. bis 12. Klasse an Waldorfschulen, Stuttgart 2001 | E. Suess: Das Antlitz der Erde, Wien/Leipzig 1908