Kosmische Hände

Erziehungskunst | Handwerk, Handarbeit und Gartenbau werden als drei Geschwister betrachtet. Was ist das Geschwisterhafte an ihnen?

Andreas Höyng | Der große Unterschied ist, dass im Handwerk die Hände den Stoff gestalten. Im Gartenbau sind die Kinder pflegerisch mit den Händen tätig. Man arbeitet mit den Händen, doch die Natur gibt immer einen Teil hinzu, auf den der Mensch keinen Einfluss hat. Beim Werken und bei der Handarbeit gestaltet der Mensch alles. Er findet einen Stoff der Außenwelt vor – die Wolle, das Holz, den Stein, das Metall. Im Handwerk werden Stoffe bearbeitet, die vom Lebendigen abgelöst, gewissermaßen tot sind. Im Gartenbau bewegt sich alles in der Sphäre des Lebendigen. Die Schüler erleben von Woche zu Woche immer etwas Anderes, Verändertes. Es ist weiter gegangen, ohne dass sie etwas an dem Salat, den sie gepflanzt haben, getan hätten. Sie können in diesem Sinne auch nicht unmittelbar das Ergebnis ihrer Arbeit sehen. Alles ist im Fluss und im Werden. Im Werken und in der Handarbeit ist das Produkt, das sie geschaffen haben, eine Woche später noch immer im gleichen Zustand, in dem sie es zurückgelassen haben. Der Schüler begegnet seinen Fehlern oder auch seiner sachgemäßen Bearbeitung unmittelbar.

Im Gartenbau müssen die Fehler sofort von anderen ausgeglichen werden. Wenn der Salat nicht richtig gepflanzt wurde, kann ich nicht eine Woche warten und dann sagen: Schau mal, das müssen wir noch verbessern. Der Salat wäre welk. So üben die Kinder soziale Haltungen und Fähigkeiten ein. Wenn ein Schüler nicht fleißig war, dann kommen die anderen, die das in Ordnung bringen. Der Salat, den man vergessen hat anzugießen, wird von der nächsten Klasse versorgt. Das ist die Urgebärde des Sozialen: Die Folgen dessen, was ich getan habe, müssen oder dürfen andere tragen – auch im Positiven. Die Früchte, die ich ernte, essen andere. Natürlich gibt es auch eine Ähnlichkeit zwischen den Fächern. Sie liegt darin, dass die Kinder mit den Händen arbeiten. Diesen Zusammenhang erleben die Kinder sehr stark.

EK | Warum verbindet sich der Mensch durch die Arbeit an der Erde mit dem Geistigen?

AH | Äußerlich betrachtet ist die Arbeit an der Erde völlig irdisch. Aber das ist nur die eine Seite. Es ist ein Unterschied, ob der Bauer mit dem Pflug über das Feld geht oder es mit der Maschine bearbeitet. Rudolf Steiner spricht von sinnvollen und sinnlosen Bewegungen. Ohne eine moralische Wertung zu geben, unterscheidet er Bewegungen, die nur von unserem Leib gefordert sind und solchen, die ihr Motiv in der Auseinandersetzung mit der Welt haben. Durch die Letzteren ziehen wir allmählich den Geist in uns herein.

Die Pflanze lebt nach kosmischen Gesetzen und der Mensch verbindet sich mit diesen, wenn er mit den Händen den Pflug führt. Wenn ich auf die Erde schaue, muss ich auch nach oben in den Himmel schauen. Sonst komme ich nicht zurecht. Ohne diese himmlische Blickrichtung wäre Ackerbau über Tausende von Jahren nicht möglich gewesen. Die Kinder sind so geartet, dass sie dafür unbewusst ein Empfinden haben, sie tauchen darin träumend ein. Insofern drückten die ältesten Kulte immer die Verbindung zwischen Himmel und Erde aus. Der Ackerbau beginnt versinnbildlicht in der Darstellung des goldenen Pflugs. So lautet ein altpersischer Spruch:    

Trage die Sonne auf die Erde
Du Mensch bist
Zwischen Licht und Finsternis gestellt.
Sei ein Kämpfer des Lichtes
Liebe die Erde.

EK | Warum ist Gartenbau Kulturarbeit?

AH | In dem Moment, in dem der Mensch sesshaft wurde, bearbeitete er die Erde und wirkte kulturbildend. In dem französischen Wort »agriculture« ist dieser Bezug noch hörbar. Wenn wir auf die abendländische Kultur blicken, auf die Begründung der Klöster durch die iro-schottischen Mönche, zeigt sich, welch innige Verbindung Natur, Kultur und Geistiges eingingen. Die Erde wird im Klosterleben ergriffen, bearbeitet und kultiviert. Und dieser Zusammenhang gilt bis heute: Dort, wo die Landwirtschaft zugrunde geht, geht auch die Kultur zugrunde. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zerfällt unsere Kulturlandschaft. Sie war ein Gewebe des Zusammenwirkens von Mensch, Tier und Pflanze bis hin zu den Mineralien, das durch diese Jahrtausende währende Arbeit geschaffen wurde. Es gibt in Mitteleuropa kein Steinchen, kein Äckerchen, das nicht durch Menschenhände gegangen ist.

Das 20. Jahrhundert bringt mit sich, dass sich alles trennt. Ackerbau, Waldbau, Obstbau, Schweinemast, Rindermast ..., es wird alles vereinzelt, separiert. Es ist, als ob man aus einem Kleid alle einzelnen Fäden herauszieht: Es fällt auseinander und ist kein Kleid mehr. Das ist auch ein Ausdruck dessen, was mit dem Menschen geschieht, der immer mehr in die Vereinzelung geht. Dort, wo die Erde nicht sachgemäß ergriffen wird, die Beziehung zum Kosmos verloren geht, kommt es zu Krankheitserscheinungen. Die soziale Wirksamkeit hört auf. Profitgier bestimmt alles Verhalten.

EK | Steiner sagte, dass die Kinder im Gartenbau moralische Kräfte einüben. Wie können wir das verstehen?

AH | In dem Moment, in dem der Mensch verstehend in die Gesetzmäßigkeiten der Natur eindringt, sie bearbeitet und verändert, entsteht sofort eine geistig-moralische Frage. Wie geschieht das? Im Sinne des Profites, des Eigennutzes oder im Sinne des wechselseitigen Dienens? Ich schaue auf das Naturreich, ich verdanke ihm mein Dasein, aber zugleich helfe ich ihm auch durch eine sachgemäße Pflege. Ich hebe alles eine Stufe höher. Die Erde wird artenreicher und nicht ärmer durch meine Arbeit an ihr. Allerdings eben nur, wenn ich ihre Gesetzmäßigkeiten erlausche. Und das versuche ich, den Kindern im Gartenbau tätig zu vermitteln.

EK | Was brauchen Gartenbaulehrer für Fähigkeiten, um die Kinder zu unterrichten, die nicht an den Strickstrumpf zurückkehren, sondern in einen sich immer verändernden Garten?

AH | Der Garten ist meine erweiterte Leiblichkeit und in diese kommen die Kinder herein. Ich kann ihnen ja nicht jede Stunde alles bewusst machen, was inzwischen geschehen ist. Die Kinder finden eine Veränderung vor. Es ist nie gleich. Die Frage ist also, wo und wie knüpfe ich an das Vorherige an. So haben wir auch nicht das Konzept, dass jede Klasse ihr Beet hat. Der Garten ist unser aller Garten. Für diesen gemeinsamen Garten kann ich nur dann Verantwortung vermitteln, wenn ich als Vorbild verantwortlich in ihm stehe. Die Schüler arbeiten für mich, weil ich meinen Garten liebe. In diesen Zusammenhang können sie hineinschlüpfen.

Um die Brücke von Woche zu Woche zu schlagen, stimme ich die Kinder kurz auf das ein, was im Jahreslauf geschieht und führe sie dann im Konkreten an die Arbeit heran. Ich muss im Bewusstsein haben, was das Kind vor ein, zwei, drei Wochen gemacht hat, damit die Tätigkeit im Ganzen in einem Sinnzusammenhang steht. Vom Gartenbaulehrer muss dieser Sinnzusammenhang in ganz anderem Maß hergestellt werden, als vom Handarbeits- oder Werklehrer. Was hat das Tomatenanbinden mit dem Basilikumernten oder dem Holzhacken zu tun? Die Kinder müssen am Lehrer selbst erleben können, dass er ganz in der Natur steht. Deswegen muss der Garten schön sein und als Lebensraum gestaltet werden. In einer träumerischen Schicht können die Kinder diesen Sinnzusammenhang erleben. Dafür habe ich Nischen, Räume geschaffen. Ich erlebe das vor allem im Sommer, wenn die Kinder morgens um sieben Uhr kommen. Die Natur spricht noch viel stärker und die Kinder sind noch viel empfänglicher für die Natureindrücke. Ich brauche da keine Einführung, wir gehen einfach an die Arbeit.

EK | Die Hände sind bei den Tieren Nützlichkeitsorgane, bei dem Menschen sind sie frei, sie sind Ausdruck des Geistigen. Was bedeutet das, wenn der Mensch dieses Organ mit der Erde verbindet?

AH | Es gibt ein Bild von van Gogh, einen Bauer, der sich zur Erde neigt mit gefalteten Händen. Religion, einmal einfach formuliert, ist Pflege der Beziehung zum Geistigen. Wenn ich mit den Händen an der Erde arbeite, sie in die Erde senke, so ist das im Grunde eine urreligiöse Gebärde. Ich gehe eine Beziehung zur Erde ein, ich pflege sie, gestalte sie. Wir müssen den Kindern klarmachen, dass die Hände zur Arbeit da sind, wie Steiner in seiner »Menschenkunde« (4. Vortrag des methodisch-didaktischen Teils) ausführt. Der Ackerbau ist die Urtätigkeit der Hände. Es ist die Uranbindung an das Geistige. In der Ackerkultur steckt das Wort Kultus. Kultus ist die Pflege des Geistigen. Ich pflege in der Erde das, was geworden ist für die Zukunft.

EK | In Handarbeit, Handwerk bilden die Kinder in der sechsten, siebten, achten Klasse verschiedene Fähigkeiten und Fertigkeiten aus. Wie ist das im Gartenbau?

AH | In diesen drei Jahren wiederholen sich eigentlich immer wieder die gleichen Arbeiten. Es kommt in diesem Sinn nichts Neues hinzu. Was anders ist, ist das sich entwickelnde Bewusstsein der Kinder. Die Kinder gehen immer bewusster mit der Arbeit um. Ich erwarte auch von einem Siebtklässler beim Kompostschaufeln mehr Ausdauer und Durchhaltekraft. Beim Sechstklässler gliedere ich die Arbeit so, dass er, wenn er etwas anderes sieht, auch die Arbeit wechseln kann. In der achten Klasse wird die Arbeit im Sozialen, in der Gruppe verankert. Man arbeitet ja nie allein. Ich erwarte, dass die Schüler geschickt miteinander die Arbeit gliedern: Wie kann ich zu viert die Arbeit sinnvoll aufteilen, ist die Frage. Rücksichtnahme ist gefordert. Ich kann nicht einfach losarbeiten wie in der sechsten Klasse noch.

Doch mein tiefstes Motiv ist, dass die Kinder tätig und verantwortlich den Jahreslauf miterleben. Dass sie empfindungsmäßig ein Gefühl für das Lebendige bekommen. Das geht nur durch die Wiederholung. Das Lebendige kann ich nur verstehen, wenn ich eintauche in den Zeitenstrom. Die Pflanze als Zeitgestalt lässt sich nur im Jahreslauf erfassen. Dabei ist die einjährige Pflanze besonders wichtig. Sie muss gesät, pikiert, gepflanzt, gepflegt und geerntet werden. An ihr lässt sich die Zeitgestalt tätig erfassen.

Die Fragen stellte Ariane Eichenberg.