Steinhauen heißt, die Natur sprechen lassen

Thomas Verbeck

Was ich tragen kann, kann ich auch bewältigen …

Steinhauen in der 11. Klasse der Rudolf-Steiner-Schule Remscheid. Aufgabe: eine freie Form. Der Schüler wählt den Stein für eine erste Übung aus. Kann er ihn selbst tragen, ist das eine gute Voraussetzung dafür, dass er ihn auch bewältigen wird. Selbst gewählte Aufgaben sind selten zu schwer. Von Vorteil ist es, wenn der Stein ein Bruchstück ist oder noch besser, wenn er aus einem Fluss stammt, in dem er schon über viele Jahrzehnte gerollt und abgerundet wurde. Dann bietet er Formen und Bewegungen an, denen der anfänglich lernende Bildhauer folgen kann. Gesägte Flächen sind ungleich schwerer zu bearbeiten. Das anfänglich eher träumerische »Pickeln« über die gesamte Oberfläche des Steins lässt den Schüler in einen Arbeitsrhythmus kommen, ermöglicht es ihm, seine eigene kraftsparende Schlagtechnik zu finden. Dabei wird die äußere Haut des Steins geschält und die weiße, kristallin glänzende Schicht des Marmors kommt zum Vorschein. Es lösen sich alle Teile aus dem Gestein, die brüchig oder marode sind. Der Schüler lernt »seinen« Stein von allen Seiten kennen. Dann schauen wir ihn gemeinsam an. Erste Formen und Flächenbildungen lassen sich erkennen: das Konkave und Konvexe wird bewusst wahrgenommen und von Einzelnen erlebt.

Langsam wird es spannend

Jetzt beginnt die Tätigkeit, die Oberfläche auf Basis der gewonnenen Erkenntnisse konsequent mit leichten, gezielten Schlägen so zu bearbeiten, dass eine Fläche in eine Spannung kommt, vergleichbar einem Segel, das durch den Wind aufgebläht wird. Störende Buckel und Vertiefungen müssen geebnet werden. Eine konkave Fläche ist dabei leichter zu bearbeiten, da man »einfach« ins Material vordringen kann, ohne sich immer wieder bewusst auf die Umgebung einlassen zu müssen. Die Neigung, eine Vogeltränke, eine Brunnenschale oder ein Seifenschälchen zu hauen, ist bisweilen sehr verlockend. Für manchen Schüler steigert das allerdings auch die Arbeitsmotivation, da ein konkretes, leichter vorstellbares Ziel scheinbar in greifbarer Nähe liegt.

Mein Stein und ich

Zurücklehnendes, innehaltendes Betrachten und kraftvolles Arbeiten am Stein sind Ausdruck der beiden Seelengesten von Antipathie und Sympathie. Indem sie sich abwechseln und in ein Hin- und Herschwingen kommen, entstehen die Momente, in denen sich Bewusstsein einstellt und ein Impuls für den nächsten Arbeitsschritt aufgenommen werden kann. Darauf sollte der Lehrer in der Gruppe aufmerksam machen und die Schüler dazu anleiten. Die Handlungsextreme »einfach Draufloshauen« und »verzagt Pickeln« aus Angst, etwas kaputt zu machen, müssen ein wenig harmonisiert werden. Jeder Schüler soll in den Prozess hineinkommen. In der Regel gelingt dies innerhalb einiger Tage und die Schüler finden so ihren individuellen Zugang zu ihrem Stein. Dieser stellt sich in dem Moment ein, wenn die Spannung einer Fläche wahrgenommen und erlebt wird. Dann wird plötzlich auch die Arbeit »spannend« und nur noch selten unmotiviert unterbrochen. Man ist interessiert, will dranbleiben, seiner Spur, der Bewegung der einzelnen Fläche folgen. Die Balance im Hin- und Herschwingen von Sympathie und Antipathie zu finden, und dazwischen zu Erkenntnissen und bewusst motivierten Handlungsimpulsen zu gelangen, ist alles andere als einfach. Die Schüler ertappen sich immer wieder dabei oder werden vom Lehrer darauf aufmerksam gemacht, dass sie wie selbstvergessen und träumerisch schöne und reizvolle Linien, Kanten und Formen entstehen lassen, aber das ganze plastische Gebilde ihrem wachen Bewusstsein entschwindet.

Das Gespräch mit dem Stein

Sehr interessant ist es dann, ein Werkstück in die Mitte zu stellen mit allen Schülern darum herum. Jeder Einzelne schildert von seiner Warte aus, was er sieht, nicht was er vermutet, sich vorstellt oder denkt. So entsteht durch die 360-Grad-Wahrnehmung ein Gesamtbild, das mitunter völlig kontroverse Eindrücke aufweist. Es wird nicht geurteilt, es wird nur beschrieben. Der Schüler erhält dadurch eine Menge Anregungen, die er im Einzelnen aufnehmen oder verwerfen kann. Er kann sich entscheiden, ob er bestimmte Flächen verbinden oder trennen will, bewusst Kanten und damit Akzente setzen, einen Schwerpunkt verlagern oder die ganze Skulptur auf den Kopf stellen sollte – um so eine völlig neue Situation entstehen zu lassen, mit der er dann neu umgehen kann.

Die Ziele der Waldorfpädagogik

In den letzten Waldorfschuljahren kristallisiert sich das, worum sich die Lehrer in allen Jahren als Entwicklungsbegleiter der Kinder bemüht haben heraus: den Willen ins Denken zu heben und das Denken in den Willen zu führen. Beide Ströme durchdringen sich im Fühlen, werden von hier aus impulsiert und kommen in Bewegung. Der Jugendliche kommt mit reiferem Alter zunehmend in die Lage, beide Prozesse selbst zu steuern. Das Einwirken schwingender sympathischer und antipathischer Gesten und ein vom Denken durchdrungener Wille verwandeln den Stein: Ein scheinbar totes, gestaltloses Gegenüber wird zu einer lebendigen, durchgestalteten Form. Die Schüler sind bei ihrer Arbeit gleichzeitig Akteure und Betrachter. Das Interesse, das die Arbeit des Anderen in ihnen weckt, ist letztlich der Indikator, ob das Werkstück gelungen vollendet wurde. Es ist wie ein Theaterstück, das vorher niemand kannte, von dem keiner wusste, wie es ablaufen und schon gar nicht, wie es enden würde. Allein das Zusammenwirken der Spieler, ihre wache Präsenz, das gegenseitige Zuhören, das Annehmen von Impulsen führen zu einer spannenden Interaktion, die den Zuschauer in ihren Bann zieht.

Zum Autor: Thomas Verbeck ist Fachlehrer für Holzwerken in der Mittelstufe, Schmieden und Steinhauen in der Oberstufe und für Englisch in der Unterstufe.

Hinweis: In der Rudolf-Steiner-Schule Remscheid wird das Fach Steinhauen seit einigen Jahren als künstlerischer Wahlkurs mit ca. 40 Arbeitsstunden in der 11. und 12. Klasse angeboten.