Lebendiges Interesse für die Welt

Sibylla Hesse

Mit Tisch- oder Zimmergenossen verbringt man Zeit in begrenztem Raum. Zeitgenossen teilen einen größeren Horizont: bekannte Persönlichkeiten, politische Zustände, Moden – man spricht auch vom Zeitgeist. Innerhalb eines geografischen Gebietes charakterisieren jede Epoche Herausforderungen, Chancen und Gefahren. Wer sich völlig abschottet, wirkt auf andere wie aus der Zeit gefallen.

Zeitgenössische Phänomene wie beispielsweise die Verkleinerung des Raumes durch hohe und preiswerte Mobilität sowie mediale Vernetzung rahmen den Alltag in weiten Teilen der Welt. Die Schattenseiten dieser Lebensweise beinhalten einen hohen Energie- und Zeitverbrauch. Dazu muss jeder eine Haltung finden – hier stellt sich eine Aufgabe der Bildung. »Aber der Pädagoge muss auch die Zeit begreifen, in der er steht, weil er die Kinder begreifen muss, die ihm aus dieser Zeit heraus zum Erziehen übergeben werden.« (Rudolf Steiner)

Was ist eigentlich ein »Zeitgenosse«?

Auf diese Frage antwortete unsere letztjährige Zwölfte sehr unterschiedlich, aber Hinweise auf die Bedeutung von Wissen und Bewusstsein grundierten ihre Ansichten. Mehrere Jugendliche unterstrichen, wie gut es ihnen hier und heute ginge, besonders im Vergleich zu den syrischen Menschen, die nur zu überleben versuchten. Lia ergänzte, dass man sich auf dem Wohlstand nicht ausruhen dürfe: Mit einigen anderen war sie der Meinung, dass die Ursache des Reichtums in Deutschland auch im Kolonialismus zu finden sei. Andere verwiesen auf die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft durch die Globalisierung in anderen Teilen der Welt, die uns einen wirtschaftlichen Vorteil verschaffe.

Wer seine Geschichte nicht kennt, kann nicht in der Gegenwart leben

Ich hatte die Frage nach Zeitgenossenschaft im Geschichtsunterricht gestellt. Man müsse die Weltgeschichte kennen und verstehen, forderte Saskia, damit man die heutigen Ereignisse hinterfragen könne. Diese Ansicht teilten zwei Schüler mit Hinweisen auf die deutsche Geschichte (zwei Weltkriege vom Zaun gebrochen, Zivilisationsbruch Holocaust). Anton leitete daraus eine große Verantwortung ab, auf die Werte zu achten, die von Machthabern aufoktroyiert werden. Saskia fügte hinzu, dass die Erfahrungen der Vergangenheit folgenden Generationen weiterzugeben seien, um Krieg und anderen Verbrechen vorzubeugen. Kara ergänzte: »Auch wenn ich nicht dabei war, will ich Mitgefühl zeigen«, schließlich sei es auch die Geschichte ihrer Familie.

Auf den Verlauf des 20. Jahrhunderts blickend leitete Tom eine hohe Wertschätzung der Europäischen Union ab, auch wenn noch manches zu verbessern wäre. Niklas fand Zustimmung, als er forderte, aus der Geschichte zu lernen, weshalb es ihm »äußerst wichtig ist, meiner Rolle als Zeit­- genosse ›nachzugehen‹, indem ich aufpasse, was in der Welt geschieht.« Balan würde den rückwärtsgewandten Blick um ein Gerüstetsein für die Zukunft ergänzen, während Alma auf die bei uns noch nicht gänzlich umgesetzten Ziele der Französischen Revolution (Freiheit, Gleichheit, Geschwisterlichkeit) und die Verletzlichkeit der Demokratie verwies.

Kein Grund für Pessimismus

Zwei sehr reflektierte Zwölftklässler betonten, dass sie trotzdem froh seien, heute zu leben. Lia benannte anstehende Aufgaben wie den aktuellen Rechtsruck, die Beseitigung des Hungers oder den Klimawandel. Tom warf ein, in unserer mediengeprägten Zeit mit ihrer mitreißenden Geschwindigkeit müsse man Werte wie Ruhe und Entschleunigung stärker lehren. Damit tasteten sich die Jugendlichen von der Außenseite des Zeitgenossenseins vor zur Innenseite. – Mich überraschte, dass trotz aller sichtbaren Probleme viel Empathie und ein optimistisches Lebensgefühl herrschten.

»Heute zu leben bedeutet seine Vergangenheit zu kennen und daraus die Gegenwart besser zu verstehen, um so die Probleme der Zukunft zu lösen.« (Noel, 18)

Terrorismus und Klimawandel als Herausforderung

Man kann der Gefahr erliegen, vielen Trends hinterherzulaufen oder aber sich Neuerungen gegenüber völlig zu verschließen und aus Unverständnis Ängste zu entwickeln. Klüger scheint mir eine Haltung lebhaften Interesses, die gegenwärtige Zusammenhänge als Potenzial sichtet und das Wertvolle daraus annimmt, sich Schädlichem aber verweigert oder sogar entgegenstellt. Manchmal ist zwischen Gutem und Schaden schwer zu unterscheiden: eine permanente, anstrengende Aufgabe für Zeitgenossen.

Sie zu lösen bedarf eines Wertefundamentes und breiter Kenntnisse der Folgen, die mit vernetzendem Denken erfasst und mit dem eigenen Tun und Lassen verknüpft werden sollten.

Beispiel Terror: Nach jedem Anschlag steigt die Versuchung, »den« Islam dafür verantwortlich zu machen und auf dessen »westliches« Feindbild mit einem strukturell gleichen Feindbild zu antworten. Damit ginge die Saat der Entzweiung auf. Aktive Zeitgenossen analysieren dagegen gründlicher: Welche ungestillten Bedürfnisse könnten die Täter motiviert haben? Das heißt keinesfalls, diese zu billigen! Aber nur durch Verstehen und folgendes Handeln kann weiteren Anschlägen vorgebeugt werden. Sich in die Weltsicht eines Terroristen einzudenken ist eine Zumutung, die zeigt, dass ein zeitgenössischer Mensch sein zu wollen, kein Spaziergang ist.

Beispiel Klimawandel: Der menschliche Einfluss durch 250 Jahre Industrialisierung ist kaum zu leugnen und weder leicht noch schnell zu bremsen, unterstreicht aber die Zusammengehörigkeit der Menschheit. »Nach uns die Sintflut!« halten unsere Waldorfschüler für moralisch fragwürdig (und, fügen einige hinzu, dem Karma abträglich). Die Lösung fängt mit kleinen Dingen an wie dem Ausschalten des nicht benötigten Lichtes, dem Verzicht auf energiezehrende Alufolie um das Schulbrot oder dem Schulweg per Fahrrad.

Ohne Interesse keine Begeisterung

Die Endlichkeit vieler Ressourcen lädt sachlich mit Notwendigkeit dazu ein, Schule und Welt zu verzahnen. Jeder Unterricht kann Forderungen unserer Gegenwart aufgreifen:

• Schulhof und Gebäude auf steigende Temperaturen einrichten (Begrünung, Beschattung): Aufgaben für Gartenbau, Geografie und die Architekturepoche der 12. Klasse

• Kopierpapierverbrauch reduzieren: Mathematik

• Solarpaneele aufs Dach setzen: Physik

• sich in die Politik der Stadt einbringen (Bürgerbeteiligung): Sozialkunde, Deutsch

• Schülerputzfirma gründen: Chemie, Wirtschaft

• Lokalgeschichte erforschen und darstellen: Geschichte, Ethik

• sich mit Gleichaltrigen in andern Ländern vernetzen: Fremdsprachen

• Menschen zum Nachdenken über aktuelle Themen bringen: Theater, Deutsch

• Streitschlichter bzw. Mediatoren ausbilden

• Fachleute einladen zu Vorträgen, Podiumsdiskussionen, konkreter Problemlösung

• gebrauchte Textilien upcyclen, das heißt ohne großen Energieaufwand weiter nutzen: Handarbeit

• nachwachsende Rohstoffe nutzen statt Plastik: Handwerk.

Diese Aufzählung ist beliebig erweiterbar. Jede Schule kann ein Jahresthema als Querschnittaufgabe wählen, etwa Kinderrechte oder Zukunftsfähigkeit. Die neuen kleinen Permakultur-Beete auf unserem Schulhof zeigen, dass man ebenso individuell durch eine Jahresarbeit Gutes tun kann.

»Wir werden nur dann gute Lehrer sein, wenn wir lebendiges Interesse haben für alles, was in der Welt vorgeht. Durch das Interesse für die Welt müssen wir erst den Enthusiasmus gewinnen, den wir gebrauchen für die Schule und für unsere Arbeitsaufgaben. Dazu sind nötig Elastizität des Geistigen und Hingabe an unsere Aufgabe.« (Rudolf Steiner)

Es ist kein Zufall, dass wir heute leben

Vor genau 25 Jahren trat die UN-Charta der Kinderrechte auch in Deutschland in Kraft. Sie schreibt vor, in allen Bereichen das Kindeswohl zu beachten. Deutschland macht hier keine gute Figur mit hoher Kinderarmut, schlechteren Bildungschancen für Kinder aus prekären oder migrantischen Familien.

Es heißt in Artikel 3, »bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, gleichviel ob sie von öffentlichen oder privaten Einrichtungen […] getroffen werden, ist das Wohl des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist.« Artikel 12 verlangt, »die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife« einzubeziehen. Dieses Partizipationsrecht unterstreicht den Wert des Individuums. Zu unserer Zeit passen weder Rückzug in patriarchal geführte Großgemeinschaften, noch sehen wir Kinder heute als defizitäre und daher gering zu schätzende Erwachsene. Waldorfpädagogisch betrachtet haben sie ihren Inkarnationszeitpunkt und -ort gewählt und Aufgaben und Impulse mitgebracht. Soviel individuellen Lebensweg und Kinderrechte sieht die deutsche Bildungsbürokratie nicht vor – besonders deutlich zu beobachten bei Menschen, die aus ihren Heimatländern fliehen mussten.

Schule muss sich auch politisch engagieren

Für junge Asylsuchende wird zum Teil die Schulpflicht ausgesetzt, oft verweigert man ihnen die Familienzusammenführung. Die Zivilgesellschaft reagiert in manchen Fällen. So hat die Freie Waldorfschule Augsburg ihren afghanischen Mitschüler Ali Reza zumindest vorerst durch juristischen Widerspruch, der mit einer Petition unterstützt wurde, die über 50.000 Unterschriften fand, vor der Abschiebung bewahren können. Die Freie Waldorfschule Cottbus kämpft für das Bleiberecht von vier jungen Afghanen, indem sie ebenfalls Öffentlichkeit erzeugt.

Es bedarf einer ordentlichen Portion Urteilsvermögen und Optimismus, um sich bei solchen Missständen einzumischen. Über diese Kräfte verfügen unsere Waldorfschüler: Obwohl sie scheitern könnten, schritten sie zur politischen Initiative.

Die Tatsache, dass es Deutschland wirtschaftlich gut geht und unsere Grundbedürfnisse gestillt sind, den Jugendlichen die Welt oder zumindest Europa offensteht, kann zum Ergreifen der Verantwortung einladen. Die oben zitierten Ansichten unserer Zwölftklässler beweisen, dass sie die historisch-politischen Zusammenhänge erkennen; aber ihre Alltagspraxis folgt den Erkenntnissen nicht immer. Das Beispiel Smartphone macht die Ambivalenz sichtbar: Einerseits erlaubt es (fast) weltweite Kommunikation, andererseits konterkariert sein Stromverbrauch unsere Bemühungen um Energieeinsparungen, vom Suchtfaktor des Immer-erreichbar-Seins ganz abgesehen.

Das Gefühl der menschlichen Zusammengehörigkeit wächst

Ich beobachte, dass sich das Bewusstsein für die Herstellung unserer Konsumartikel langsam verstärkt. Durch digitale Medien wachsen die Gefühle für Zusammengehörigkeit und Verantwortung auch gegenüber entfernt lebenden Menschen (Kosmopolitisierung). Doch dann pfuscht die Bequemlichkeit wieder dazwischen: zu viel kopiert, schnell mal eine Plastiktüte abgegriffen, Früchte aus Südamerika mit großem ökologischem Fußabdruck gekauft, kurze Flugreise gebucht … Informationen über problembehaftete Produkte aus schmutziger Herstellung, Kinderarbeit, ethisch fragwürdigen Zusammenhängen stehen nicht auf der Verpackung. Sie muss man suchen, sich dabei mit falschen Behauptungen auseinandersetzen (fake news) – eine Aufgabe für Bewusstsein und ethisches Verhalten.

Die heutigen Kinder werden voraussichtlich um die 90 Jahre alt, es gilt, sie stark zu machen für Herausforderungen wie gerechte Verteilung von Ressourcen (Trinkwasser!), größere Flüchtlingsströme, friedensschaffende und -erhaltende Maßnahmen, einen klugen Umgang mit sich selbst. Aus den Aufgaben unserer Zeit und Welt-Interesse können wir Erwachsenen »den Enthusiasmus gewinnen, den wir brauchen für die Schule« (Steiner), denn die nachwachsende Generation bringt die nötigen Kräfte mit und will sich den Herausforderungen stellen. Sie bedarf jedoch anfangs noch der Unterstützung und Begleitung zum verantwortungsvollen Nutzen der Freiheit, zum Gestalten der Biographie.

So verstanden, heißt Zeitgenosse sein Antworten zu suchen: Wo kann ich in der Welt anpacken und an mir arbeiten, um die anstehenden Aufgaben mutig zu lösen? Und wo finde ich dazu die Hilfen und Ressourcen (Resilienz) – hier und heute?

Zur Autorin: Sibylla Hesse ist Lehrerin für Geschichte, Kunstgeschichte und Projektunterricht an der Waldorfschule Potsdam.

Literatur: O. Edenhofer, M. Jakob: Klimapolitik. Ziele, Konflikte, Lösungen, München 2017; T. Ungefug: Perspektiven der Sozialkunde. Plädoyer für ein unentdecktes Kernfach der Waldorfpädagogik, Pädagogische Forschungsstelle Kassel, 2017