Nicht warten, sondern entgegengehen

Eckhard Andermann

Monique Brinson, Leiterin der Waldorfschule in Oakland, Kalifornien, äußert in einem Interview mit Zeit-online: »Die erste Waldorfschule, die 1919 in Stuttgart gegründet wurde, wollte sozioökonomische Grenzen aufheben, indem Kinder von Arbeitern gemeinsam mit Kindern der Firmenleiter unterrichtet wurden.« Heute haben Waldorfschulen in Deutschland überwiegend eine sehr homogene Eltern- und Schülerschaft.

Dass dies weltweit durchaus anders sein kann, zeigt die Doku-Reportage von Esther Saoub »Waldorf global: eine Schule geht um die Welt« Dieser Film wurde im SWR-Fernsehen im November vergangenen Jahres ausgestrahlt und kann noch bis Anfang Oktober 2020 in der SWR-Mediathek angeschaut werden. Der Besuch von Waldorfschulen in Sao Paulo/Brasilien, Samara in Russland und in einem Flüchtlingslager bei Dorhuk im Irak zeigt die ganze Vielfalt der Waldorfpädagogik. Auch die Freie Interkulturelle Waldorfschule in Mannheim wird vorgestellt. Die Schulen zeigen, wie verschieden sie sein können, wenn sie eine andere soziale Zusammensetzung widerspiegeln. Solche Initiativen sind Beispiele dafür, dass Waldorfpädagogik auch für bildungsbenachteiligte Familien zugänglich sind und kulturelle Vielfalt als belebendes Element wirken kann.

Isabel Ciriaco, Lehrerin in Monte Azul, in einem Armenviertel in Sao Paulo: »Mit der Waldorfpädagogik sind die Kinder glücklicher. Sie lernen, indem sie etwas tun.«
Reinald Nascimento, Lehrer an der selben Schule und selbst in einer Favela aufgewachsen: »Die Familien sind oftmals zu arm, um ihren Kindern Halt zu geben.« Er weiß, wie Kinder abrutschen können, wenn niemand sie bei der Hand nimmt. Um möglichst viele Menschen zu erreichen, vernetzt sich der Verein auch mit anderen Sozialprojekten der Stadt.

An den Waldorfschulen in Russland ist die Erziehung zur Freiheit nicht unbedingt erwünscht. Es bleibt eine Gratwanderung zwischen den Vorgaben der Regierung und der Freiheit der Pädagogen. Für Andrej Sinkowski, Vater von Nikolaj, ist persönlich ausschlaggebend: »Die Waldorfschule hat ein System, das das Kind zu einem Menschen erzieht.« Mutter Olga ergänzt: »Die Waldorfschule ist nicht für alle einfach zu akzeptieren. Für die Großeltern war eine Schule ohne Noten eine harte Nuss.«

Fatima Oara, Mutter der zwölfjährigen Nora an der Schule im Flüchtlingslager im Norden Iraks, stellt fest: »Nora ist wacher geworden und bewusster. Sie versteht die Welt besser.« Ihrer Tochter gefällt am besten, »wenn wir alle im Kreis stehen und uns bei der Hand nehmen«.

Die Schule in Dorhuk ist eines der notfallpädagogischen Zentren, die Bernd Ruf mit den Freunden der Erziehungskunst Rudolf Steiners unterstützt. Wie in vielen anderen Krisengebieten der Welt geht es darum, traumatisierten Kindern zu helfen. Das knüpft an die Anfänge der Waldorfpädagogik an. »Sie ist in einer Zeit entstanden, in der die Welt 1919 untergegangen ist«, so Bernd Ruf. Warum ist Waldorfpädagogik hier so wirksam, so erfolgreich? »Das ist die menschliche Beziehung, die aufgebaut wird mit dem Signal: Du bist mir wichtig!«

An der Freien Interkulturellen Waldorfschule Mannheim stammt rund die Hälfte der Schüler aus Migrantenfamilien. Abed Haikal, der gerade seinen Real­schulabschluss geschafft hat, beindruckt die Schulgemeinschaft beim Ramadan-Fest, indem er aus dem Koran auf Arabisch vorliest.

Helene aus der zweiten Klasse kommt aus einer Familie ohne Migrationshintergrund. Ihre Mutter meint: »Wir haben uns bewusst für diese Schule entschieden, weil es darum geht, jedes Kind anzunehmen, damit es Lust auf das Lernen hat.«

Wie gewinnen solche Schulen ihre Schüler? Viele Eltern wissen nicht im Voraus, was Waldorfpädagogik bedeutet. Fragt man in deutschen Waldorfschulen Eltern, die ihr Kind anmelden, woher sie die Schule kennen, so ist es überwiegend die Empfehlung von Bekannten und Verwandten. Öffentlichkeitsarbeit mit Plakaten, Flyern und Broschüren sowie einem digitalen Auftritt haben die Aufgabe, Bekanntheit und Vertrauen zu schaffen sowie detaillierte Informationen anzubieten. Schulen in sozialen Brennpunkten, ob im Inland oder im Ausland, müssen dagegen besondere Anstrengungen aufbringen, wo übliche Methoden nicht hinreichen. Ute Craemer, Mitgründerin von Monte Azul: »Manche Kinder musste ich buchstäblich von der Straße holen, da die Eltern weder Zeit noch Kraft hatten für ihre Kinder.« Ganz so dramatisch ist es bei den interkulturellen Initiativen hierzulande nicht. Aber an der Interkulturellen Waldorfschule in Mannheim haben wir festgestellt, dass Infoabende, Tage der offenen Schule und andere Veranstaltungen in der Schule längst nicht ausreichen. Für viele Eltern ist schon durch Sprachschwierigkeiten oder die Angst, sich und ihre Kinder außerhalb des normalen Bildungssystems ins pädagogische Abseits zu stellen, die Hürde zu hoch. Deshalb ist es wichtig, mit der Schule dahin zu gehen, wo man Eltern und Kinder in ihrem eigenen Umfeld antrifft. Als erstes ist die Zusammenarbeit mit Kindergärten zu nennen. Die Schule bietet an, dass Lehrer und Schüler in den Vorschulklassen Stunden für Spielturnen, Malen und Vorlesen übernehmen. Im nächsten Schritt werden Kindergarten-Gruppen in die Schule eingeladen, zum Beispiel zum Backen oder der Aufführung eines Theaterstückes der Unterstufe. So wird gegenseitiges Vertrauen aufgebaut und dann ist es vielleicht möglich, auf einem Elternabend im Kindergarten die Schule vorzustellen. Eine ähnliche Zusammenarbeit wird auch mit den kulturellen und religiösen Vereinen des Stadtteils angestrebt. Auch an öffentlichen Veranstaltungen des Stadtteils beteiligt sich die Schule.

Wir können also nicht warten, bis uns die Herzen zu­fliegen, aber wir können ihnen entgegen gehen.

Zum Autor: Eckhard Andermann ist verantwortlich für die Öffent­lichkeitsarbeit an der Freien Interkulturellen Waldorfschule Mannheim.