Orte des Ankommens

Henning Köhler

Marc Augé vergleicht die Lage des Menschen in der »Hypermoderne« mit der eines »Passanten«, dem es nicht gelingt, irgendwo anzukommen. Passantentum als modus vivendi ist die vergebliche Suche nach wirklichen Orten: »Orten zum Verweilen«, Orten des Innehaltens. Der Passant findet nur Funktionsorte, wo er dies oder jenes erledigt, konsumiert, sich aneignet, benutzt, abliefert, um dann weiterzuziehen. Im subjektiven Erleben sind das virtuelle Orte, »Nicht-Orte«, »Orte des Ortlosen«. Man verlässt sie, ohne wirklich dort gewesen zu sein. Insofern ist unser habituelles Passantentum ein Wirklichkeitsverlust. Nichts erscheint real, wenn man nirgends ankommt. Vor dem Bildschirm, durch TV-Programme zappend oder online, steigert sich das »Transit«-Syndrom – immer nur irgendwie auf der Durchreise – ins Bizarre.

Als Grundforderung der Zeit müsse begriffen werden, »anthropologische Orte« zu schaffen, schreibt Augé. Orte, wo der Mensch sozusagen sich selbst verorten kann in dem Sinne, dass er spürt: Hier finde ich mich. Wohnliche Orte, wo man wirklich ankommt, auch bei sich selbst. Sind Schulen solche Orte? Ich fürchte nein – von Ausnahmen abgesehen. Viel ist zu tun, um die Räume des Lernens wohnlicher zu gestalten. Waldorfschulen sollten dabei vorangehen. Ein Anfang wäre das Modell des »Rückzugs- und Ruhebereichs«. Gemeint ist eine Zone, die allen Kindern offen steht, wenn ihnen danach zumute ist. In den R.R.-Bereich wird man nicht wegen ungebührlichen Benehmens verbannt. Niemand muss ihn aufsuchen, aber jeder hat das Recht dazu. Man kann dort ausruhen, eine kleine Stärkung zu sich nehmen, spielen, schaukeln, malen, basteln, lesen oder Vokabeln lernen. Zwei oder drei Erwachsene – je nach Schulgröße auch mehr – stehen den Kindern zur Ver­fügung, für Spaziergänge zum Beispiel, oder zum Vorlesen. Oder sie hören einfach zu, geben Rat, spenden Trost.

Einigermaßen weiträumig sollte der Bereich sein und ruhebedürftigen Kindern Rückzugsnischen bieten. Ideal wäre ein angeschlossener Garten.

Einen R.R.-Bereich zu schaffen, hätte den unschätzbaren Vorteil, dass man damit aufhören könnte, Störenfriede vor die Tür zu stellen. Der eine oder andere Schüler wird versuchen, im R.R.-Bereich dauerhaft sein Hauptquartier aufzuschlagen. Aber wozu sind wir Pädagogen? Noch etwas: Immer mehr Kinder klagen frühmorgens über »Schulbauchweh«. Das wäre nicht mehr halb so wild, wenn sie wüssten: »Ich kann ja in den R.R.-Bereich gehen. Notfalls auch mal eine Woche lang.«

Eine kleine, nach der Pädagogik Rudolf Steiners arbeitende Schule, die Freie Dorfschule Unterlengenhardt, will das Experiment wagen, als Teil ihrer Vorbereitungen auf »Inklusionsfähigkeit«. Nach ein bis zwei Jahren soll darüber berichtet werden. Ich bin pädagogischer Begleiter des Kollegiums. Wir müssen Geld aufbringen für eine Lehrkraft, eine Praktikantenstelle und Inventar.

Meine Anfrage an die erziehungskunst-Leserschaft: Wer hat Ideen, wie ein solcher Probelauf finanziert werden könnte – oder gar Lust und Mittel, selbst etwas beizusteuern? Rückmeldungen bitte an: henning.koehler@jk-institut.de