Ortswechsel

Mathias Maurer

Liebe Leserin, lieber Leser!

Die vierjährige Vanessa erzählt mir ganz genau, wie das ist, wenn man gestorben ist. »Die Oma schaut vom Himmel herunter und winkt uns zu. Und dann kommt sie wieder als Baby. Und dann kommt der Papa in den Himmel und dann die Mama.« Es geht so der Reihenfolge nach weiter mit den älteren Geschwistern. Schließlich: »Und dann komme ich und winke auch.« Es kehren alle wieder zurück, das Leben wird nicht unterbrochen: »Und alle kommen wieder!« Der Tod führt sie alle nur an einen anderen Ort, wie auf einem Ausflug. – »Fallen wir da nicht runter?« Ich höre gespannt zu und denke noch über eine Antwort nach: »Die Wolken sind ja weich und Mamas Bauch auch«, lacht sie. Vanessa hat Krebs und überlebt.

Der Musiker Viktor Ullmann wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert. Dort schrieb er die Oper »Der Kaiser von Atlantis oder die Todverweigerung«. Kaiser Overall ruft den »großen, segensreichen« Krieg aller gegen alle« aus. Dem wahnwitzigen Vorhaben, das die Vernichtung alles menschlichen Lebens zur Folge hätte, tritt der Tod entgegen: »Die Seelen nehmen kann nur ich!« Er durchkreuzt mit seiner Weigerung den kaiserlichen Tötungsbefehl: Die Menschen sterben nicht mehr und das wichtigste Herrschaftsinstrument des Kaisers versagt. Die Menschen erkennen in den erfolglosen Versuchen, sich gegenseitig umzubringen, die Sinnlosigkeit ihres Handelns, empfinden erst Mitleid und dann Liebe füreinander und wünschen sich den erlösenden Tod herbei. Viktor Ullmann überlebte Auschwitz nicht.

Die meisten Menschen fürchten den Tod. Sie erleben ihre Ohnmacht gegenüber seinem früheren oder späteren, aber unabwendbaren Eintritt. An diesem Punkt endet menschliches Herrschaftswissen und technische Machbarkeit. Geburt und Tod und was davor und danach mit uns geschah und geschehen wird, entzieht sich unserem Bewusstsein, unserer direkten Steuer- und Beherrschbarkeit. Mit der Geburt bekommen wir das Leben geschenkt – der Tod nimmt es. Wir werden geboren, aber wir werden nicht gestorben, sondern sterben – ein Hinweis darauf, dass wir an diesem Prozess bewusst und aktiv teilnehmen können. Die große Angst vor dem Tod besteht darin, dieses Bewusstsein zu verlieren.

Rudolf Steiner gibt detaillierte Beschreibungen, wie das vorgeburtliche und nachtodliche Leben des Menschen aussieht und was sie an der Schwelle in ihre physische Existenz hinein und aus ihr heraus erleben. Dass das keine Spinnereien eines Eingeweihten sind, belegen Studien des niederländischen Kardiologen Pim van Lommel, der aufgrund der Nahtoderfahrungen von Patienten zu dem Schluss kommt, dass es ein körperloses kontinuierliches Bewusstsein geben muss, das sich nicht auf die Hirnfunktion beschränkt und über die Schwellen unserer physischen Existenz und unseres Alltagsbewusstseins hinaus wahrnehmungsfähig ist. Dann ist die bildhaft-kindliche Darstellung Vanessas nicht weit davon entfernt, Geburt und Tod als einen Übergang auf eine andere Bewusstseinsstufe zu lesen.

Aus der Redaktion grüßt

Mathias Maurer