Pädagogik für die obere Mittelschicht

Heiner Ullrich

Ullrichs These: Die »Natur« des Kindes gibt es nicht. Vorstellungen von der Kindheit unterliegen geschichtlichen Wandlungen und sehen in verschiedenen Gesellschaften sehr unterschiedlich aus. Die Waldorfpädagogik bedient mit ihrem Bild von Kindheit den modernitätskritischen Teil des bildungsorientierten bürgerlichen Milieus.

Das Werk »Geschichte der Kindheit« von Philippe Ariès aus dem Jahre 1960 hat die pädagogische Kindheitsforschung tiefgreifend verändert. Nach Ariès ist die Kindheit nichts selbstverständlich Gegebenes oder gar »Natürliches« mehr. Sie muss vielmehr als ein geschichtlich wandelbares Phänomen gesehen werden.

Es gibt gute Gründe dafür, heute von einem gleichzeitigen Nebeneinander unterschiedlicher Muster des Kindseins auszugehen. In Anlehnung an den Siegener Sozialisationsforscher Jürgen Zinnecker lassen sich vier solche Grundmuster mit je spezifischen Kindbildern und Erziehungszielen bestimmen: Im postmodernen Kindheitsmuster ist Kindheit ein Experimentierfeld der Modernisierung. Weil die Schriftkultur vernachlässigt wird und die neuen Medien dominieren, schwindet die Überlegenheit der Erwachsenen über die Kinder. Postmoderne »Kids« steigen über ihre avantgardistische Kenntnis der medialen Szenarien unmittelbar in die jugendlichen Subkulturen ein.

Im klassisch-modernen Muster ist Kindheit ein Bildungsmoratorium. Hier weisen die Kinder ebenfalls schon viele Züge der Erwachsenen auf: Ihr Alltag wird als Lern- und Bildungszeit schon früh verplant, um möglichst keine Zeit – und kein Geld – beim Erwerb von Bildungskapital zu vergeuden. Schon früh werden besondere Kenntnisse und Fertigkeiten auf sportlichem und musischem Gebiet trainiert, um bereits vor und außerhalb der Schule »Bildungstitel« zu erwerben.

Das traditional-moderne Kindheitsmuster richtet sich gegen den Modernisierungsdruck und versucht, den überlieferten Schonraum der bürgerlichen Erziehungskindheit zu erhalten. Im Schutzraum der Familie, Gemeinde und Kirche wird an die Kinder das kulturelle Erbe weitergegeben. Die oft über Generationen ausgearbeitete Haltung der Familie bestimmt den Umgang der Kinder mit den massiven Verlockungen des Medienmarktes. In dieser Kindheitsformation wird bewusst gegen die Enttraditionalisierung und Auflösung der kindlichen und familialen Lebenswelt erzogen.

In einer noch entschiedeneren Form geschieht dies im Rahmen des fundamentalistisch-modernen Kindheitsmusters, das in der Reformpädagogik entworfen wurde und sich oft in ökologisch-alternativen und religiös-spirituellen Initiativen finden lässt. Grob vereinfacht wird Kindheit hier als Träger einer Gegengesellschaft verstanden.

Für jedes Kindheitsmuster ist ein anderer Umgang mit den Risiken des Aufwachsens kennzeichnend: Im traditional-modernen Typ wollen die Erziehenden vor allem Schutzräume einrichten, in denen ein kindgemäßes Aufwachsen inmitten hochmoderner Lebensbedingungen möglich sein soll – vom spielzeugfreien Kindergarten über naturnahe Erfahrungsräume bis zur Schule als Lebensraum.

Im modernen Kindheitsmuster soll einerseits der Kinderschutz erhöht werden, damit der Nachwuchs risikofrei aufwachsen kann; andererseits sollen die Kinder auch schon früh an die Standards schulischen Lernens herangeführt werden – an Lesen, Schreiben und Rechnen sowie an das Lernen einer Fremdsprache oder eines Instruments möglichst schon im Vorschulalter.

Im postmodernen Kindheitsmuster zielt der Umgang der Erwachsenen mit den Kindern darauf, sie als Akteure und Subjekte ihres eigenen Lebens direkt zu stärken. Sie erhalten von ihren Eltern oder »Bezugspersonen« das Recht, in einer urbanen Dienstleistungs- und Erlebnisgesellschaft ihren Lebensstil – vor allem im Bereich von Freizeit, Konsum und Medien – selbst zu managen. Computer und Mobiltelefone gehören für sie selbstverständlich dazu.

Angesichts der Pluralität heutiger Kindheitsmuster ist jede naturalistische Vorstellung eines universal gültigen Modells kindlicher Entwicklung und Erziehung zurückzuweisen. Für einen verlässlichen Begriff von Kindheit wird man auch nicht ohne die Stimmen der Kinder selber auskommen, wie sie beispielsweise in den aktuellen Befragungen der 6- bis 12-Jährigen in der 1. World Vision Studie 2007 zum Ausdruck kommen.

Daraus ergeben sich zwei Anfragen an die Waldorfpädagogik:

  • Es gibt kaum gesicherte empirische Befunde, auf die sich die anthroposophische Menschenkunde von der Entwicklung des Kindes heute zusätzlich zu den geisteswissenschaftlichen Schauungen Rudolf Steiners stützen könnte.
  • Die »Erziehung des Kindes vom Gesichtspunkt der Geisteswissenschaft« erscheint nicht mehr als eine universal gültige pädagogische Grundlehre. Sie muss als eine bürgerliche Ausgestaltung des pädagogischen Moratoriums verstanden werden, die heute zwischen dem traditional-modernen und dem fundamentalistisch-modernen Kindheitsmuster zu lokalisieren wäre. Waldorfpädagogik wird heute erfolgreich praktiziert, weil Waldorfschulen und -kindergärten ein gleichförmiges postmaterielles Milieu der oberen Mittelschicht anziehen. Das heißt aber auch, dass Waldorfpädagogik den Anschluss an andere Milieus, den sie ja bei der Gründung der ersten Waldorfschule suchte, heute nicht mehr besitzt. Sie kann ihn nur durch bewusste Öffnung zu den sich wandelnden Lebenswelten der Kinder wieder herstellen.