Parzival und der Recke im Tigerfell

Nunu Milorava

Thema der Literatur-Epoche in der elften Klasse der Waldorfschule in Tbilisi, der georgischen Hauptstadt, ist das ritterliche Epos. Die Schüler erhalten dabei Gelegenheit, georgische und europäische Meisterwerke aus dem Mittelalter zu vergleichen, deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. Die Elftklässler haben Schota Rustavelis »Der Mann im Tigerfell« behandelt und lernen während der Epoche Wolfram von Eschenbachs »Parzival« aus der gleichen Zeit kennen. Dies ermöglicht ihnen, Parallelen zwischen beiden Epen zu ziehen.

In der mittelalterlichen Literatur bedeutet »Ritter« soviel wie »Reiter« und »mutiger Held«. Aufgrund der Konkretisierung des Begriffs »tapferer junger Mann« erkennen die georgischen Schüler rasch ritterliche Eigenschaften in den Werken »Amirandaredschaniani« und »Der Mann im Pantherfell« und sie schließen daraus, dass, obwohl es keinen expliziten Ritterkodex gab, die Güte und Großherzigkeit der Ritter Rustavelis klar zeigen, dass im Georgien des 12. Jahrhunderts eine Rittergesellschaft mit all ihren Merkmalen entwickelt war. Wie alle anderen Romane des »Gral-Zyklus« erweckt auch das Ritterepos »Parzival« das besondere Interesse der Schüler im Hinblick auf die Parallelen zum georgischen Ritterepos. Die Schüler sind hingerissen von der typisch ritterlichen Suche nach Abenteuern, von der besonderen Verehrung der Frau, vom Verlangen, sich einen Namen zu machen und von den Prinzipien der ritterlichen Erziehung. Es entstehen hitzige Diskussionen über die blinde Liebe der Mutter in Parzivals Kindheit.

Ein Teil der Klasse – vor allem die Mädchen – ist der Meinung, dass Herzeloyde guten Grund hat, den Sohn vor den zu erwartenden Gefahren zu schützen, und zu verhindern sucht, dass er den Weg seines Vaters einschlägt – wenn auch, so die Schüler, dies auf Kosten der persönlichen Freiheit geschehe. Die andere Seite – mehr »männlich« – findet, dass die Erziehungsprinzipien von Parzivals Mutter inakzeptabel seien. Sie vertritt die Meinung, dass wenn alle Mütter ihre Söhne so behüten, also isoliert von der Gesellschaft aufziehen würden, es überhaupt keine Ritter und mutigen Männer mehr gäbe. Es entsteht eine Parallele zur Dichtung »Der Mann im Tigerfell«, wo die Heldin Nestan auch isoliert aufwächst, wobei die Erziehungsverantwortung hier nicht bei der Mutter, sondern bei einer weisen Tante liegt.

Schließlich lässt das Thema der Erziehung einen Bogen zur heutigen Realität schlagen: Welche Erziehungsmethoden und -prinzipien braucht das heutige Georgien? Ist die persönliche Entwicklung allein abhängig von der Erziehung oder spielen auch andere Faktoren eine Rolle? Die Schüler erinnern sich an die Worte des georgischen Dichters Akaki Zereteli: »Was kann Erziehung allein erreichen, wenn die Natur nicht mithilft?« Hier weisen die Schüler auf Gurnemanz hin und stellen fest, dass die elterliche Erziehung allein nicht genügt zur Entwicklung der Persönlichkeit. Die freie Entwicklung des Menschen hängt auch von anderen Persönlichkeiten in seinem Umfeld und der Gesellschaft ab, innerhalb welcher der Mensch heranwächst.

In diesen Diskussionen entsteht neben dem Bild der georgischen Helden Tariel, Avtandil und Fridon ein Bild des nicht minder interessanten, auf den ersten Blick etwas befremdend wirkenden, außerordentlichen, aber uns doch sehr nahen, liebenswerten Helden Parzival, dessen Abenteuer so viel zu denken geben und so viele Fragen aufwerfen.

Ein Beispiel aus dem Unterricht:

»Lieber Parzival,

ich habe deine Geschichte kennen gelernt. Ich bin beeindruckt von deiner Zielstrebigkeit. Es ist schwierig, wenn ein Mensch in so jungem Alter nach einem solchen Ziel streben muss, vor so vielen Hindernissen steht, aber dennoch nicht aufgibt … Wenn wir in Betracht ziehen, dass du noch jung und unerfahren bist, können wir ein Auge zudrücken bezüglich deines naiven und dummen Verhaltens.

Um eine Rüstung zu erhalten, musst du zuerst, im vollständigen Sinn dieses Wortes, ein Ritter werden. Zuerst musst du dich vom Narrenkostüm, das heißt, von der Vergangenheit befreien. Das heißt aber nicht, dass du die Vergangenheit völlig vergessen, also aus dem Gedächtnis streichen sollst.

Nur darfst du nicht mehr so stark abhängig davon sein. In dir ist alles, um ein wirklicher Ritter zu werden. Du bist gütig und mutig. Durch diese Güte wirst du vielen helfen. Ich wünsche dir viel Kraft, die Hindernisse zu überwinden und Mut, den du schon in großem Maße besitzt.«

11. Klasse, Nina Abashidze

Da taucht dann doch die Frage auf: Was ist uns geblieben von den ritterlichen Tugenden, auf die wir einst so stolz waren? Nächstenliebe, Mitgefühl und die Fähigkeit, jemandem beizustehen, unbedingte Hingabe und Kampfgeist – das sind  höchste Werte, die nie an Bedeutung verlieren und ohne die die menschliche Existenz unvorstellbar ist. ‹›

Zur Autorin: Nunu Milorava ist Lehrerin für georgische Literatur an der Waldorfschule Tiflis. Übersetzung: Barbara Sulashvili