Phänomenologisches Denken in der Naturwissenschaft

Bernd Rosslenbroich

Im Laufe der kulturellen Entwicklung emanzipierte sich der Mensch immer mehr von der Natur und stellte sich ihr gegenüber. Und erst als die Welt in diesem Sinne zu einem Objekt »da draußen« wurde, entstand der Drang, mehr von jenem Objekt zu erfahren. Das war der Anfang eines naturwissenschaftlichen Fragens, das vorher nicht möglich war, da es kein äußeres Objekt gegeben hatte, das dem Menschen Rätsel aufgab. Er erlebte sich dann zunehmend als ein Subjekt, das mehr von jenem Objekt erfahren wollte. Der Gewinn war die Freiheit, die Selbstbestimmtheit gegenüber der objektiven Welt. Damit war das Problem geboren, in welchem Verhältnis das Subjekt zum Objekt steht – ein philosophischer Dauerbrenner bis heute. Bald standen sich zwei Lager gegenüber: Der Rationalismus sah mit Descartes die wissenschaftlich relevante Seite mehr im Subjekt, dem die in ihrer Existenz bezweifelbare gegenständliche Welt gegenüber stehe. Wissenschaftliche Erkenntnis verfolge die Überführung der Gegenstandswelt in gedankliche Strukturen, unter wesentlichem Einbezug der Mathematik. 

Der Empirismus setzte dagegen am Objekt, der sinnlich erfahrbaren Welt an. Dabei wird die Sinneswahrnehmung nicht qualitativ, sondern in ihren quantifizierbaren Teilen, in dem, was mess-, wäg- und zählbar ist, aufgefasst. Forschung ist dann die Systematisierung der messbaren Anteile der Sinneswahrnehmung.

Heute zeigt sich dieser Gegensatz auch in seinen praktischen Konsequenzen: Der Mensch hat sich so weit vom unmittelbaren Erfahren der Naturzusammenhänge entfernt, dass er sie in noch nie dagewesenem Ausmaß zerstört. Natur wird einerseits von ihm unabhängig erlebt und beherrschbar gemacht, als wären wir nicht selbst ein Teil von ihr. Andererseits werden manche Theorien mehr aus abstrakten Konstrukten als aus Beobachtungen entwickelt. Daraus geht wiederum ein Selbstverständnis des Menschen in oft einseitigen Interpretationen hervor.

Kant hatte bereits nach einer Synthese beider Seiten gesucht, ging dabei aber von einer nicht wirklich erkennbaren Welt hinter den erfahrbaren Dingen aus. Goethe schätzte die Ausführungen Kants, machte aber dessen Annahme nicht mit, dass die reale Welt für uns nicht erfahrbar, das »Ding an sich« unerreichbar sei. Insofern war Goethe Realist: Er wollte an der realen Außenwelt deren Ordnungsgehalt erfahren und strebte eine echte Objekterkenntnis an. Für ihn war entscheidend, im Erkennen das Objekt in seiner Eigengesetzlichkeit zu erreichen und nicht nur das vorzufinden, was der Verstand hineinlegt. Er war aber auch kein reiner Empirist, denn die Erfahrung gibt nicht von sich aus die Lösung ihrer Rätsel preis.

Entscheidend für ihn war die Zusammenführung beider Elemente: die kritische und reflektierte Zusammenführung von Empirie und Begriff (Begriff im Sinne von Erklärung, Verständnis). Dabei orientieren sich die Begriffe eng an der wirklichen Ordnung der Objekte. Gerade dadurch sind sie im Idealfall nicht subjektiv, sondern im beobachteten Zusammenhang begründet. Sie sind objektive Realitäten in der notwendigen Einheit mit der Materie.

Das Besondere am Goetheanismus ist dieses sensible Zueinanderführen von Empirie und Theorie, von Wahrnehmung und Begriff. Es geht darum, die Empirie soweit zu bringen, dass sie selbst ihren Gehalt auszusprechen beginnt. In diesem Sinne kann man auch von einem phänomenologischen Denken sprechen.

Goetheanismus erweitert das einseitige analytisch-atomistische Denken, indem er mehr das Ordnungsgefüge, in dem die Erscheinungen stehen, berücksichtigt. Mit der Annahme der notwendigen Einheit von Erscheinung und Begriff und der Realität des Begrifflichen unterscheidet er sich von einer rein materialistischen Naturwissenschaft, zumindest dort, wo ein materialistischer Ansatz nur eine begrenzte Bedeutung hat. Goetheanismus ist aber keine alternative Wissenschaft. Seine Elemente sind allen wissenschaftlichen Strömungen der Neuzeit immanent. Viele Naturforscher gehen selbstverständlich davon aus, dass die gefundenen Regelmäßigkeiten sehr wohl die Ordnung in den Dingen beschreiben. Damit wird intuitiv der Ordnungsgehalt der Natur aufgesucht, auch wenn man sich dazu eine andere Wissenschaftstheorie konstruiert.

Und es sind gerade manche Pioniere, die ihre Interpretationen unabhängig von Lehrmeinungen, nahe am Phänomen, hervorgebracht haben. Jane Goodall schlüpfte bei ihren Beobachtungen an Schimpansen geradezu in deren Lebensumfeld hinein und wurde zur Mitbegründerin einer Verhaltensforschung, die heute immer besser in der Lage ist, auch die Empfindungswelt der Tiere zu beschreiben, anstatt sie nur auf Reiz-Reaktionsmuster zu reduzieren. Als Lynn Margulis entdeckte, dass es in der Evolution nicht nur Konkurrenz, sondern auch Symbiosen und Kooperationen gab, stand dies am Anfang einer neuen Suche nach Evolutionsfaktoren, die nicht nur ein Zufallspuzzle von Mutationen annimmt. Man kann diese Art von phänomenologischem Denken aber auch methodisch gezielt betreiben und kommt so auf Zusammenhänge, die einer kausal-analytischen Vorgehensweise entgehen. So nimmt etwa Wolfgang Schad die Gesamterscheinung der Säugetiere in der Realität ihrer Phänomene an. Walther Streffer untersucht die eigene musikalische Qualität des Vogelgesangs und überwindet so die einseitige Reduktion auf Überlebensfunktionen. Ebenso kann in den Mustern und Prozessen der Evolution gelesen werden, sodass sich übergeordnete Zusammenhänge zeigen, wie in meiner Arbeit zur Autonomieentstehung durchgeführt.

Dieses Lesen in der Natur kann aber auch zu einem pädagogischen Übungsfeld werden. Erst wenn wir Tier und Pflanze sowie die Lebenszusammenhänge, in denen der Mensch gemeinsam mit ihnen steht, in ihrem eigenen Ordnungsgefüge erkennen, wird die Subjekt-Objektspaltung überwunden, ohne aber die Eigenständigkeit, die Freiheit des Beobachters preiszugeben.

Literatur: Wolfgang Schad: Säugetiere und Mensch, Stuttgart 2012; Walther Streffer: Klangsphären. Motive der Autonomie im Gesang der Vögel, Stuttgart 2009; Bernd Rosslenbroich: Die Biologie der Freiheit. Zur Entstehung von Autonomie in der Evolution, in: die Drei 10/2012

Zum Autor: Dr. Bernd Rosslenbroich leitet das Institut für Evolutions­biologie und Morphologie an der Universität Witten/Herdecke. | www.uni-wh.de/gesundheit/institut-evolutionsbiologie