»Phantasie ohne Grenzen«. Halten virtuelle Welten, was sie versprechen?

Paula Bleckmann

Vertrauen ist gut – Kritikfähigkeit ist besser

Alle pädagogisch Tätigen sollten sich mit neuen Technologien kritisch auseinanderzusetzen. Das gilt besonders dann, wenn es unser Ziel ist, die positiven Seiten dieser Technologien für die uns anvertrauten Menschen nutzbar zu machen. »Phantasie ohne Grenzen« verspricht zum Beispiel das Rollenspiel Playmobil World, das im Spätsommer 2012

online gehen soll und für die Altersgruppe von Kindern ab sechs Jahren gedacht ist. Ein weiteres Werbeversprechen des Herstellers: »Nie allein und immer in Sicherheit« soll das Kind in der Playmobil World sein. Hier soll ein Spiel an kleine Kinder verkauft werden, das nach demselben Strickmuster funktioniert, wie das Onlinerollenspiel World of Warcraft (WoW). Das Suchtpotenzial von WoW war nach einer deutschlandweiten Untersuchung von 2007/08 höher als bei allen anderen Spielen. Daraus ergab sich die Forderung, die USK-Altersbeschränkungen für dieses Spiel von 12 auf 18 Jahre anzuheben.

Unter Phantasie verstehen wir normalerweise das Vermögen, neue Bewusstseinsinhalte und innere Bilder eigenständig zu erzeugen. In Playmobil World werden aber dem kindlichen Auge äußere Bilder und Klänge vorgegeben. Die Bilder entstehen nicht im Inneren und treten nach außen, sondern erscheinen durch Programmvorgaben auf dem Bildschirm. Gegen die Idee der Phantasieförderung durch Bildschirmmedien spricht das Forschungsergebnis einer Studie von Greenfield aus den 1980er Jahren: Einer Gruppe von Kindern wurde eine Geschichte im Fernsehen gezeigt, eine andere Gruppe hörte dieselbe Geschichte im Radio. Bevor die Erzählung zu Ende war, unterbrach man und bat die Kinder, das Ende der Geschichte aufzuschreiben. Die Fortsetzungen der gehörten Geschichte waren deutlich phantasiereicher und ausführ­licher als bei der Darbietung als Film.

Leere Versprechungen

Für jede Stunde, die ein Kind im Vorschulalter ohne seine Geschwister vor dem Fernseher verbringt, nimmt nach einer texanischen Studie von 2006 die Zeit, die das Kind in Interaktion mit den Geschwistern verbringt, nicht etwa nur um diese eine Stunde, sondern um über anderthalb Stunden ab. Für jede Fernsehstunde nimmt auch die Interaktion mit den Eltern und die mit kreativem Spiel verbrachte Zeit ab. Und 2009 weist der Medienforscher Dimitri Christakis nach, dass Fernsehen auch dann, wenn es nur im Hintergrund läuft, sich negativ auf die Eltern-Kind-Interaktion auswirkt. Die Beeinträchtigung der Phantasiekräfte in Folge medialer Reizüberflutung illustrieren folgende Kinderzeichnungen. Dabei sind in der oberen Reihe die Zeichnungen von Vorschul­kindern zu sehen, die unter 60 Minuten täglich fernsehen, in der unteren Reihe von Kindern mit über drei Stunden täglichem Fernsehkonsum: Diese Erkenntnisse beziehen sich auf das Fernsehen als passives Medium.

Wie sieht es aber mit der Phantasieförderung beim interaktiven Medium Computer aus? Wenn man dem Hersteller glauben darf, soll die Malsoftware »Colorelli« (für Kinder im Vorschulalter) »die Phantasie anregen« und »ungeahnte Talente zum Vorschein bringen«. Was aber geschieht tatsächlich? Mithilfe des Programms lässt sich per Mausklick der Bildschirm mit knalligen Farben und unterschied­lichsten Formen füllen. Aber auch dann, wenn das ausgedruckte »Produkt« am Ende ein perfekter Kreis ist, muss dafür keinerlei runde Bewegung vollzogen werden. Es gibt also ein Erfolgserlebnis, bei dem der Erfolg gar nicht der Person zugerechnet werden kann. Solche Kinder werden sich noch weniger als zuvor mit einem eigenen Kreis abmühen, eher sogar das Malen in Zukunft den Maschinen überlassen.

Virtuelle Phantasiewelten – Sucht und Sehnsucht

Joshua Gundelmann ist nicht sein wirklicher Name, und so wie der junge Mann auf dem Photo sah er nie aus, ähnlich vielleicht schon. Als ich ihn zum Interview treffe, steht ein gutaussehender großer Mann vor mir, der jünger als 28 wirkt. Joshua ist seit mehr als einem halben Jahr clean, das heißt, aus World of Warcraft ausgestiegen.

In seiner schlimmsten Spielphase brachte er 20 Kilo mehr auf die Waage. Kurz nach dem Beginn seines Informatikstudiums, er war gerade frisch von zu Hause ausgezogen, lernte er über einen Freund World of Warcraft (WoW) kennen, ein Onlinerollenspiel, in dem man sich einen eigenen »Avatar« erschafft, der sich in einer unendlichen, virtuellen Phantasiewelt bewegt. Joshua war fasziniert von dieser Welt. Während er anfangs noch nebenher studierte, spielte er schließlich nur noch WoW.

Er erzählt, wie er am frühen Nachmittag aufwachte, den PC anschaltete, dann rasch die Aufbackbrötchen in den Ofen schob und einen Wecker stellte, denn wenn er einmal im Spiel war, vergaß er alles andere. Er stieg schnell Level um Level auf. Vierzehn Stunden am Tag spielte er schließlich. Bald war er der geschätzte und zuverlässige Leiter einer eigenen Gilde, einer Spielergemeinschaft.

Dort war sein Name Gunjo. Seine Eltern belog er und ließ sie mehrere Jahre lang glauben, er studiere weiter. Er machte mehrere erfolglose Versuche, aufzuhören. »Ich hab mich in einem tiefen Loch gefühlt, wo oben das Licht, der Ausgang irgendwo zu sehen war, aber wo man nicht wusste, wie man da hochkommen soll.«

Am Ende half ihm eine überraschende Wendung des Schicksals: Er konnte aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr sitzen, musste ins Krankenhaus zur Operation und hatte dort keinen PC zum Weiterspielen. Er schildert, wie schwer es für ihn nach dem »erzwungenen« Ausstieg aus WoW war, nicht doch wieder anzufangen. Er beschreibt eine innere Stimme, die zu ihm sagte: »Siehst du, wie du dein eigenes Leben kaputt gemacht hast? Zu Anfang hattest du die Leute neben dir … jetzt geh lieber wieder zurück ins Spiel. Da wissen die, wer du bist, da hast du deine Anerkennung … Da bist du wenigstens wer in dem Spiel. Aber hier kennst du doch keinen mehr. Was willst du denn überhaupt noch hier?« Aber Joshua blieb konsequent, und darüber ist er heute sehr froh.

Bei ehemaligen Computerspielabhängigen herrscht große Ernüchterung vor, Bedauern und manchmal auch Wut gegen die Hersteller, die die Spiele mit vielen Merkmalen ausstatten, die die Spielerbindung erhöhen und dabei für wirtschaftlichen Gewinn die Sucht in Kauf nehmen.

»Unverständlich, dass Leute, die Haschisch oder Drogen verkaufen, festgenommen werden, während Leute, die Spiele wie WoW verkaufen, als Stützen für den Wirtschaftsstandort angesehen werden«, so ein anderer Interviewpartner. Und: »Man sollte die Risiken und Nebenwirkungen kennen. Genauso wie auf den Zigaretten draufsteht, Rauchen ist schädlich, sollte auch auf den Computerspiel­packungen stehen: Computerspiele machen süchtig.«

Menschen sehen sich als biologische Maschinen

Ein wesentlich »leiseres«, aber nicht weniger dramatisches Risiko der Computernutzung besteht in der Verschiebung des Welt- und Menschenbildes: Computernutzer sehen sich selbst nicht mehr als unwiederholbare, einzigartige menschliche Wesen an, sondern als biologische Maschinen. Dass diese Art von Materialismus sich als Folge der Nutzung neuer Technologien ergibt, klingt nicht nur einleuchtend, sondern wurde auch in einer Studie von Robert Gaßner aus dem Jahr 1989 untersucht und bestätigt. Als Erwachsener kann man viele, aber nicht alle Risiken neuer Technologien dadurch abmildern, dass man sie sich bewusst macht. Es ist nicht die Schreibmaschine, nicht der Computer, nicht das Internet an sich, das zwingend gut oder schlecht ist. Oder um es mit Joseph Weizenbaum zu sagen, einem renommierten Informatik-Professor und zugleich einem der schärfsten Kritiker der unreflektierten Nutzung technischer Errungenschaften: »Ich bin kein Computer­kritiker. Ich bin Gesellschaftskritiker.«

Literatur: P. Greenfield u.a.: »Is the Medium the Message? Effects of Radio and Television on Imagination.« Journal of Applied Developemental Psychology 7, 3/1986; F. Rehbein u.a.: »Prevalence and Risk Factors of Video Game Dependency in Adolescence: Results of a German Nationwide Survey.« CyberPsychology & Behavior, 13 (3), 2010; D. Christakis u.a.: »Audible Television and Decreased Adult Words, Infant Vocali­zations and Conversational Turn. A Population-Based Study«, Arch Pediatr Adolesc Med. 2009; 163 (6); R. Gaßner: Computer und Veränderungen im Weltbild ihrer Nutzer: Eine qualitative Längsschnittanalyse bei jugendlichen und erwachsenen Computerkursteilnehmern, Frankfurt 1989

Zur Autorin: Dr. Paula Bleckmann ist Biologin und Medienpädagogin mit Schwerpunkt Mediensuchtprävention. Sie ist Referentin in der Eltern-, Erzieher- und Lehrerbildung und Mutter von drei Kindern.