Philosophie wird zum Mythos

Mit achtzehn beschäftigte sich Rudolf Steiner intensiv mit Fichtes »Wissenschaftslehre«. Er versuchte sogar, sie umzuschreiben. In diesem bedeutsamen Lebensjahr, in dem grundlegende Motive der Biographie aufleuchten, bemühte er sich, die Beziehung von Geist und Natur zu verstehen. »Dass das ›Ich‹, das selbst Geist ist, in einer Welt von Geistern lebt, war für mich unmittelbare Anschauung. Die Natur wollte aber in die erlebte Geisteswelt nicht herein«, schrieb er im Rückblick auf seine Auseinandersetzung mit Fichte in »Mein Lebensgang«.

Die Frage, die wir auch heute nachvollziehen können, lautet: Wie lässt sich eine Brücke zwischen dem geistigen Erlebnis des Denkens und der Gegenstandswelt finden, die den Sinnen scheinbar geistleer gegeben ist? Die europäische Philosophie kämpft seit Descartes mit diesem Problem. Fichtes Lösung bestand darin, die Natur, das »Nicht-Ich«, aus dem Ich »abzuleiten«, das heißt, die körperliche, sinnliche Welt aus dem denkenden Geist.

Steiner muss damals deutlich empfunden haben, dass man auf diesem Weg doch nur zu abstrakten Gedanken von der Natur kommt, zu einem »Schematismus des Verstandes«, nicht zu der sinnlich wahrnehmbaren Natur selbst. Mit dieser Frage ist zugleich ein Lebensthema angeschlagen, denn sie beschäftigte ihn bis zu seinem Tod.

Die Überbrückung dieser Kluft ist eines der zentralen Probleme der Anthroposophie. In all ihren Themenfeldern geht es um das Versöhnen dieses Gegensatzes. In seinem Vortrag »Theosophie in Deutschland vor 100 Jahren«, den Steiner 1906 in Paris hielt, charakterisiert er Fichte als eine Art Moses, der das Denken bis an die Grenze des gelobten Landes des »Okkultismus« geführt habe, ohne es selbst zu betreten. Fichte habe sich nicht damit begnügt, über den wahrnehmbaren Weltinhalt philosophisch zu reflektieren, sondern er habe versucht, dieses Reflektieren selbst anzuschauen. Dadurch geriet das Ich ins Blickfeld, das sich seine Bestimmungen denkend selbst gibt, das nur ist, was es selbst aus sich macht. Das Ich, das sich denkend seine Wesensbestimmung gibt, ist nicht Geschöpf, sondern Selbstschöpfer. Und dieses selbstschöpferische Tatvermögen ist die Grundlage des Okkultismus als Erfahrungswissenschaft. Die Hingabe an Fichtes Denken wird zur Meditation, die in der Seele verborgene Erkenntniskräfte weckt. Fichtes Denken ist eine Form des Schauens, das die »geistige Welt« in Gestalt von Ideen erfasst. Das Erleben des reinen Denkens ist der »Typus« einer jeden okkulten Erfahrung. Die Form der Erfahrung (vollbewusstes, selbstanschauendes Verwirklichen des Denkens) ändert sich nicht, nur der Inhalt der Erfahrung. Die seelischen und geistigen Wahrnehmungsorgane, die er anwendet, werden dadurch entwickelt, dass der Mensch in derselben Art an seiner Seele und seinem Leib schöpferisch wirkt, wie er als Ich an sich wirkt, wenn er sich denkend seine Bestimmung gibt.

Schließlich steuert Steiner in jenem autobiographischen Vortrag einen weiteren Gesichtspunkt bei. Hier berichtet er von der Begegnung mit einem spirituellen Meister, die in seinem zwanzigsten oder einundzwanzigsten Lebensjahr stattgefunden haben dürfte. Dieser habe an die Werke Fichtes Betrachtungen angeknüpft, die zu etwas führten, in dem »die Keime« zur »Geheimwissenschaft im Umriss« zu finden seien. Meines Wissens ist bisher noch kein Autor der Frage nachgegangen, inwiefern die »Geheimwissenschaft« eine Metamorphose der Fichteschen Wissenschaftslehre darstellt. Dabei liegt die Parallele auf der Hand.

Steiner blieb nicht an der Grenze der »Anderwelt« stehen, wie Fichte. Er überschritt sie. Indem er die geistigen Augen nicht verschloss, blickte er durch die Tathandlungen des Ich auf eine geistige Wesenswelt, die die Natur so hervorbringt, wie das menschliche Ich sich selbst. Die Gesetze und Substanzen der Natur erscheinen diesem Blick als Lebens- und Bewusstseinszustände geistiger Schöpfermächte.

Das menschliche Ich ist aus denselben geistigen Substanzen gewoben wie die Naturwesen, nur dass diese Substanzen im Menschen in völlig anderer Form erscheinen: als selbstbewusstes, sich hervorbringendes Freiheitswesen. Der Leib des Menschen ist jener Teil der Natur, den die gestaltbildenden Kräfte so organisiert haben, dass er den geistigen Weltzusammenhang unterdrückt, damit das menschliche Ich ihn selbst hervorbringen kann. Darauf zielt der Weltprozess von Anfang an. Fichtes Versuch, aus den Setzungen des absoluten Ich das Nicht-Ich und dessen Inhalt zu deduzieren, erscheint in der geisteswissenschaftlichen Kosmogonie und Anthropogonie wieder. Das transzendentale Ich Fichtes hat sich hier in die Fülle der hierarchischen Schöpfermächte metamorphosiert, die Handlungen der Selbstopferung vollbringen, aus denen die Menschheit hervorgeht.

Die »Geheimwissenschaft« ist ein gewaltiger Mythos. In ihm wird die Philosophie mythisch, weil sie zur Anschauung des schaffenden Geistes wird, der sich in Bildern offenbart. Wissenschaftlich ist dieser Mythos deshalb, weil der ihn erzeugende Geist genauso gesetzmäßig wirkt, wie die Bildekräfte der Natur.

Literatur: Steiners Versuch über Fichtes Wissenschaftslehre: Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe, Dornach 1970, Heft 30. | Rudolf Steiner: Die Geheimwissenschaft im Umriss, Dornach 1989 | Rudolf Steiner: Vom Menschenrätsel, Dornach 1984