Philosophieren in der Schule

Marcus Andries

Ein Kernstück der Argumentation gegen Philosophie-Unterricht besteht darin, dass Steiner es für eine gesunde Entwicklung der Kinder und Jugendlichen für unabdingbar hielt, ihnen eine »praktische Ausbildung des Denkens« zu ermöglichen. Das Denken sollte nicht abstrakt, sondern stets im Zusammenhang mit unserer Sinneswelt und phänomenologisch im Sinne des Goetheanismus entwickelt werden. Es soll sich, so Steiner, »in« den Dingen bewegen und mit ihnen zusammenwachsen, so dass die Gedanken »aus den Dingen herausgeholt werden« (GA 108). Ein solches sachgemäßes Denken zieht keine bloß logischen Schlüsse, spekuliert nicht, bildet keine Theorien und unterliegt keinen Gewohnheiten. Ich nehme aber an, dass Steiner bei Interesse von Oberstufenschülern sich wohl dafür eingesetzt hätte, dass für sie ein solcher Unterricht hätte stattfinden können. Für Lehrer an Waldorfschulen, die mit interessierten Schülern philosophieren wollen, sind die folgenden Gedanken und Anregungen gedacht.

Das rechte Alter

Alles Philosophieren beginnt mit dem Staunen (Platon, Aristoteles). Dieses Staunen wird getragen von einer natürlichen Neugier. Der Prototyp des Philosophen ist das kleine Kind mit seiner Urfrage »Warum?«. Wobei es, im Unterschied zum Naturwissenschaftler, nicht nach bloß äußeren Ursachen, sondern stets nach inneren Gründen fragt, was ein Spezifikum des Philosophierens ist. Doch ab wann kann und sollte mit Schülern systematisch philosophiert werden? Mit welchem Ziel und wie soll mit Kindern Philosophie getrieben werden? Welchen Anspruch kann ein Fach Philosophie in der Schule haben?

Nimmt man die Basis der Waldorfpädagogik ernst, also das anthroposophische Menschenbild mit der Beobachtung der allmählichen Entwicklung der einzelnen Wesensglieder im Kindesalter, so erscheint ein systematischer Philosophie-Unterricht erst für die Oberstufe etwa ab Klassenstufe 10/11 angemessen, dort aber auch geboten zu sein. Denn erstens zeigen sich die dem Denken zugrundeliegenden Kräfte von Oberstufenschülern so weit von der Inanspruchnahme durch den körperlichen Aufbau befreit, dass eine zugespitzte intellektuelle Beanspruchung keinen direkten körperlichen Schaden mehr erwarten lässt.

Zweitens lechzen Schüler dieses Alters förmlich nach denkerischen Herausforderungen. Sie wollen ihr neugewonnenes geistiges »Schwert« erproben und suchen in der immer komplexer werdenden globalisierten Welt nicht mehr länger bloß Detail- und Sachwissen, sondern Orientierung, die nur ein klares Denken zu geben vermag.

Zum Begriff der Philosophie

Philosophie hat immer zwei Seiten: die subjektive Denk-Tätigkeit und den konkreten und spezifischen Denk-Inhalt – beispielsweise bei der Frage »Was ist Gerechtigkeit?« den Gedanken des distributiv-kollektiven Vorteils. Philosophie kann das System solcher objektiver Gedanken-Inhalte bedeuten (Lehrgebäude, Theorie), ebenso das Fach als akademische Disziplin, sie kann sogar eine besondere Lebens- weise oder Haltung meinen. Für die Schule am fruchtbarsten ist es jedoch, die Philosophie als besondere Denk-Tätigkeit aufzufassen. Mit dem Hauptakzent auf der Tätigkeit kann Philosophie dann als Streben nach Wahrheit verstanden werden.

Kant hat genau diesen Tätigkeitsaspekt der Philosophie bei seiner »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?« vor Augen, wenn er sagt: »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« (AA VIII, 35). Im konkreten Kontext der Pädagogik bedeutet das für ihn, dass der Schüler eben »nicht Gedanken, sondern denken lernen« soll (AA II, 306), ja, Kant meint sogar prinzipiell: »Man kann niemals Philosophie, sondern höchstens nur philosophieren lernen.« (Kritik der reinen Vernunft, B 865) Demgegenüber betont Georg W. F. Hegel mehr den philosophischen Inhalt, indem er darauf hinweist, dass man ohne Gedanken nicht denken lernen könne. Aus dieser vorgeblichen Kontroverse hat sich eine bis heute aktuelle philosophiedidaktische Debatte ergeben. Doch lebendiges Denken umfasst stets beide Seiten: die inhaltliche wie die Tätigkeitsseite.

Indem Philosophie einen wissenschaftlichen Anspruch vertritt, sind an das Philosophieren als Denk-Tätigkeit gewisse Bedingungen geknüpft, die dieses Denken erst zu einem philosophischen machen. Bloß die grundlegenden Fragen des Daseins aufzuwerfen, etwa »Was ist Wirklichkeit?«, »Was ist das Gute?« oder »Was ist der Tod?«, macht noch nicht Philosophieren im eigentlichen Sinn aus. Tiefe Fragen sind allenfalls eine der notwendigen Voraussetzungen des Philosophierens. In erster Linie soll beim Philosophieren nicht nur inhaltlich Anderes gedacht werden (Was?), sondern das Andere soll auch der Form nach anders als sonst gedacht werden (Wie?). Philosophisches Denken wird deshalb erstens systematisch sein müssen. Zweitens darf es nicht bloß bekenntnishaft auftreten. Thesen müssen durch gute Argumente begründet werden. Denn das Spezifische des Philosophierens macht seine Begründungsdimension aus. Philosophieren beruft sich weder auf Autoritäten (Gott, große Denker) noch auf die bloße Tradition. Was allein zählt, ist die für den aktuellen Denkvollzug gültige Überzeugungskraft der inneren Gründe. Die letzte Quelle aller Autorität stellt die Vernunft dar. Geltungsansprüche immer wieder einer kritischen Prüfung zu unterziehen, ist ein Kernanliegen der Philosophie. Drittens muss philosophisches Denken bruchfrei erfolgen, sich folgerichtig und frei von logischen Widersprüchen und Fehlschlüssen vollziehen. Allerdings bewegt sich das Philosophieren weit jenseits der Bahnen rein formaler Logik. Denn die logisch korrekten Schlüsse deduktiver Argumente tragen zu keinem wirklichen Erkenntnisgewinn bei.

Viertens muss Philosophieren stets seine eigenen Grundannahmen reflektieren. Ein Denken über das Denken ist unabdingbar. Was rein logisch zu einem vermeintlich unlösbaren Problem führt, zu einem regressus ad infinitum, vermag die übende Denk-Praxis sehr wohl zu überwinden, auch im schulischen Rahmen.

Das Schulfach Philosophie

Der Philosophie-Unterricht in der Schule steht zwischen Lebenshilfe und Wissenschaftspropädeutik. Dem ersten Pol stehen tendenziell Themen näher wie »Ich und die Anderen«, »Gewalt und Gewaltlosigkeit« oder »Glück und Sinn«. Wissenschaftspropädeutik klingt eher bei der Auseinandersetzung mit den ethischen Standard-Begründungsansätzen an, beim anfänglichen Erfassen der Glücksethik (Aristoteles), der Pflichtethik (Kant), der Nützlichkeitsethik (Bentham, Mill) oder auch bei Steiners Freiheitsphilosophie. Allerdings gibt nicht nur das behandelte Thema den Ausschlag dafür, welchem der beiden Pole sich der Unterricht eher zuneigt, sondern auch die Art seiner Behandlung.

Das Philosophieren mit Schülern sollte seinen Ausgang von einem echten Problem nehmen, das im Fragehorizont der Schüler liegt und sie auffordert, zu suchen und zu entdecken.

Eine Problemfrage liegt dann vor, wenn zwei oder mehrere gut begründete Positionen zu dieser Frage denkbar sind, die in einem Gegensatz zueinander stehen, den es aufzulösen gilt, wie beispielsweise bei der Frage »Ist Tyrannenmord ethisch gerechtfertigt?« oder »Sollte Rettungsfolter gesetzlich legitimiert werden?« Diese Problemorientierung entspricht dem oben dargelegten Verständnis des Philoso- phierens. Die Schüler werden dann ermuntert, selbst Problemlösungen zu erarbeiten und diese anschließend mit einschlägigen Lösungsvorschlägen aus der Ideengeschichte oder aus aktuellen Debatten in Beziehung zu setzen. Auf diese Weise wird der Philosophie-Unterricht zu einem Ort der philosophischen Bildung. Zugleich vermittelt er im Sinne des aktuell favorisierten Bildungsbegriffs wesentliche methodische Kompetenzen, wie die Fähigkeit, anspruchsvolle Texte sorgfältig und systematisch zu lesen, zu analysieren und auf ihre argumentative Haltbarkeit hin zu überprüfen. Philosophieren wird so insgesamt zu einer grundlegenden »Kulturtechnik« wie Lesen, Schreiben und Rechnen.

Wenngleich zu Recht über dem Philosophie-Unterricht als oberste Kompetenz die praxisorientierte philosophische Urteilsfähigkeit der Schüler steht, so kann die Vermittlung von Kompetenzen den Philosophie-Unterricht nicht allein legitimieren und leiten. Kompetenzen werden stets aus dem Philosophieren über schülernahe Probleme, also aus der Auseinandersetzung mit wesentlichen Fragen und Inhalten erwachsen. Kompetenzen haben beim Philosophieren keinen Selbstzweck. Daraus folgt, dass der Unterricht im Fach Philosophie vor allem gemäß der didaktischen Prinzipien der Problemorientierung, der Erklärungs- und Begründungsorientierung sowie der Kritik gestaltet werden sollte, da diese allesamt philosophiespezifische Prinzipien sind.

Die Philosophie entfaltet ihre besondere Eigenart darin, nicht nur Detail- und Sachwissen zu vermitteln, sondern vor allem Orientierungswissen. Dementsprechend sollte der Unterricht mit Blick auf größere Sach- und Sinnzusammenhänge angelegt sein und interdisziplinäres Denken als ein wesentliches Element einschließen.

Philosophie-Unterricht hat die Aufgabe, das Problembewusstsein der Schüler zu schulen und sie darin zu fördern, kritische, urteilsfähige und eigenständig denkende Persönlichkeiten zu werden.

Das Philosophieren vermag wesentlich zur Bildung der Identität der Schüler beizutragen, da es ihnen als geistigen Wesen durch das reine Denken Zugänge zur Sphäre des überpersönlichen Geistigen eröffnet.

Zum Autor: Dr. Marcus Andries unterrichtet Philosophie, Ethik, Mathematik und Klettern am Gymnasium Haigerloch (Baden-Württemberg). Außerdem ist er als Lehrbeauftragter für Philosophie/Ethik am Staatlichen Seminar für Didaktik und Lehrerbildung (Gymnasien) in Rottweil tätig.

Anmerkung: Einige der hier dargelegten Gedanken habe ich zusammen mit meinem Kollegen Dr. Carlo Schutheiss am Staatl. Seminar für Didaktik und Lehrerbildung (Gymn.) Rottweil entwickelt.