Physik mit Steilvorlagen. Zu Gast bei Waldorf

Marc Brökelmann

Ich wurde gefragt, ob ich nicht Lust hätte, drei Wochen lang eine Physik-Epoche in einer 9. Klasse zu übernehmen. Meine spontane Antwort war: »Klar, aber da muss ich leider arbeiten!« Das Angebot war aber doch zu verlockend, um nicht noch ein weiteres Mal darüber nachzudenken. Ich ließ den Gedanken noch zwei, drei Wochen schwelen und dann sagte ich zu.

Auf dem Lehrplan stand Wärmelehre. Ich bereitete mich darauf ein wenig vor, indem ich unsere Küche zu Hause von Zeit zu Zeit in ein kleines Labor verwandelte.

Nachdem ich so einigen Stoff zusammengesucht hatte, stellte sich heraus, dass die Wärmelehre von einem anderen Kollegen übernommen werden sollte. Diese etwas holprigen Absprachen sorgten dafür, dass ich meinen Betreuer beim Wort nahm und mein Thema aus der Physik wählte, die ich beruflich betreibe. Das sollte aber auch noch nicht die Lösung bringen, da die Elektronenmikroskopie das Atommodell voraussetzt. Das wiederum ist aber erst in der 12. Klasse Lehrstoff. Nach Erweiterung des »Waldi-Netzwerks« kam es zu einem Gespräch mit einem Waldorf-Physiklehrer, der mir davon berichtete, dass er selbst in der 9. Klasse einmal das Thema Aerodynamik behandelt habe. Treffer, das war es. Als leidenschaftlicher Segelflieger und Fluglehrer gab es für mich nichts Besseres. Und für die Schüler? Mal sehen.

Ein Feuerwerk an Zweideutigkeiten

Ich dachte mir weitere Experimente aus, probierte und dachte, dass ich ein Konzept für die drei Wochen hätte. Ich kannte ja schon einiges aus dem Unterricht als Fluglehrer. Es kam mein erster Schultag. Mein Betreuer moderierte mich kurz an und verschwand. Ich erwartete natürlich eine gespannte und aufmerksame Klasse, denn jetzt wollte ich mit meinem Superthema Aerodynamik kommen. Die erste Stunde nach den Ferien sieht aber anders aus! Es herrschte ein Lärm in der Klasse, von dem ich noch nicht mal wusste, wo er genau seinen Ursprung hatte.

Selbstverständlich bat ich um Ruhe, aber ich habe ja auch nur darum gebeten. Als nächsten Schritt klopfte ich auf den Tisch, um mir Gehör zu verschaffen. Es gab auch für den Bruchteil einer Sekunde Ruhe. Diese wurde aber vom erneut aufkommenden Gemurmel wieder verjagt. Meine Ansage, dass am letzten Donnerstag die Klassenarbeit geschrieben wird, wurde mit mürrischen Kommentaren zur Kenntnis genommen. Die Ansage, dass auch an diesem Tag die Epochenhefte eingesammelt werden, wurde gleich als erster Test für mich genommen. Zuruf aus dem vermeintlichen Zuhörerkreis: »Och, für so einen Hefter habe ich kein Geld …!«, untermauert mit einem schrägen, aber festen Blick zu mir. »Kein Problem, dann hefte einfach alles auf den letzten Ordner oben drauf, ich sehe ja, wo die Physik anfängt!«. Sender und Empfänger waren beide von der Nachricht überrascht, aber das hatten wir geklärt.

Ich teilte drei Bände des Duden aus, damit drei Schüler nach den Worten Aero, Dynamik und Aerodynamik suchen und vorlesen konnten. Erste Antwort: »Ich kann nicht lesen!«. Das war etwas zu plump und ich bestand auf der erteilten Aufgabe. Der zweite Versuch ließ nicht lange auf sich warten: »Ey, das kann man doch googeln!«. Jetzt hatte sich zumindest dieser Schüler vom Duden befreien können, da ich das googeln zuließ und dafür seinem Nachbarn die Aufgabe übertrug, um zu sehen, wer schneller ist. Dieser war zwar auch nicht begeistert, aber er fing wenigstens an, zu blättern. Es dauerte gefühlte fünfzehn Minuten, bis die drei Wörter gefunden und die Definitionen vorgelesen wurden. Der Schüler mit dem Smartphone kapitulierte mit der Begründung, es gebe zu viele Links mit Aerodynamik. Das hatten wir also auch geklärt.

Jetzt wollte ich Begriffe oder Gebiete sammeln, die man mit Aerodynamik verbindet. Hier gab es ein paar Mitleidsmeldungen, weil es einige wohl doch nicht fair fanden, mich an der dunkelgrünen Tafel stehen zu lassen. Unsere vorsichtigen Annäherungsversuche machte ich aber so richtig zunichte, als ich für eine Gruppenarbeit vier Zufallsgruppen einteilte. In den Gruppen sollten Versuche gemacht werden. Alle hatten den gleichen Versuch mit jeweils einem unterschiedlichen Papierstreifen durchzuführen. Ich erklärte, dass man den Papierstreifen an die Lippen halten und dann ein wenig pusten sollte. Die Kreativität und die Ausrichtung der Gedanken während der Pubertät lieferten ein Feuerwerk an Zweideutigkeiten auf Grund meiner soeben gegebenen Steilvorlage. Auch in den folgenden zehn Minuten blieb mir nichts anderes übrig, als es einfach auszuhalten.

Gut dass man selbst mal diesen Teil des Lebens mitgemacht hat und noch besser, wenn man sich noch daran erinnert …! Hausaufgabe war, die Versuchsbeobachtungen zu vervollständigen. Der erste Tag ist mir noch gut im Gedächtnis und ich fragte mich, ob ich das wirklich drei Wochen lang machen wollte.

Rauchende Teebeutel

Es kam der zweite Tag. Ab diesem Tag begannen wir zusammen zu arbeiten. Ich hatte mir am Nachmittag zuvor lange überlegt, was ich den Schülern mitgeben wollte – außer meinem Unterrichtsstoff. Ich wollte nämlich versuchen, sie zum selbstständigen Denken anzuregen, wie man es eben als Physiker in der Arbeitswelt braucht. Ich sammelte wie selbstverständlich die Hausaufgaben ein und bereitete mit kleinen Zaubererallüren den nächsten Versuch vor. Es war der fliegende Teebeutel. Genauer gesagt, die Asche des Teebeutels fliegt. Beim Entzünden des Teebeutels leises Schülergemurmel. Als dann aber die Asche bis kurz unter die Decke aufstieg, war es absolut still und ein Staunen zu spüren. Ich hatte es wohl geschafft, ihr Interesse zu wecken. Diese Energie reichte mir den Rest der Zeit, um davon überzeugt zu sein, dass die 9. Klasse geschlossen eine Gruppe von tollen Schülern ist.

Die Gruppen ließ ich ab sofort selbstständig bilden und auch sonst verlangte ich immer mehr Selbstständigkeit und Selbstverantwortung. Einige hatten ihre Schwierigkeiten damit, aber das mussten sie lernen. Mein Angebot, Referate zu halten, wurde erst Ende der Woche zum ersten Mal von einem Schüler nachgefragt.

In den nächsten Tagen beschäftigten wir uns mit dem Luftdruck und dessen Definition. Die Freunde des Smartphones fanden eine, die das Wort Luftsäule enthielt. Auf meine Frage, welche Grundfläche die Luftsäule habe, kam ein gelangweiltes und herausforderndes: »Ist doch egal!«. Ich stimmte zur Überraschung der Schülerin zu und wiederholte pädagogisch unschön die Aussage. Es folgte kurz die physikalische Erklärung, warum das tatsächlich egal ist.

Um das Fliegen zu erklären, was unsere Leitfrage für diese Epoche war, brauchten wir auch eine Antwort auf die Frage, was Luft ist. In der Erklärung taucht irgendwann ein »zweiatomiges Teilchen« auf. Ich wusste, dass die Atomphysik überhaupt noch nicht auf dem Plan war. Dennoch wollte ich meiner Neunten die Chance geben, dort einmal reinzuschnuppern. Ich war richtig in Fahrt gekommen, stand gerade mit der Kreide vor der Tafel, da bemerkte ich wieder dieses Staunen mit den großen Augen. Es galt aber weniger dem Rutherford-Modell, als meinem Enthusiasmus. Ich dachte, ja, das ist Schule, und die physikalischen Querschläger – Atommodell in der 9. Klasse – hielten sich von da ab in Grenzen.

Messflüge in der Aula

Die Versuche, die ich bis dahin zeigte, fanden alle im Klassenzimmer statt. An einem Tag wollte ich aber der realen wissenschaftlichen Messung in der Fliegerei möglichst nahe kommen. Es war Hausaufgabe, einen Papierflieger zu bauen. Am nächsten Tag lag genau einer auf dem Tisch. Pech für die Klasse, da die anderen drei Gruppen dann einen von mir gebauten nehmen sollten. Plötzlich gab es in den vier Gruppen doch noch eine ausreichende Anzahl an Papierfliegern, mit denen wir Messflüge in der Aula machen konnten. Die Flieger wurden mit einem blauen Klebepunkt markiert und es galt, die Flugzeit und die Flugweite eines jeden Fliegers mindestens zehn Mal zu messen.

Ich hatte mich auf das schlimmste Chaos vorbereitet, frei nach dem Gedanken, »wehe, wenn sie losgelassen«. Ein Teil meiner Unterrichtsvorbereitung bestand darin, meine Schiedsrichter-Trillerpfeife mitzunehmen. Sie blieb aber körperwarm in meiner Hosentasche, denn nach etwa zehn Minuten Genuss der Bewegungsfreiheit machten sich die Gruppen an die Arbeit. Die einen mit gleichmäßiger Arbeitsteilung und Papier und Stift, die anderen mal wieder mit dem Handy, wobei es einen Protokollführer gab, der seine Messwerte dann per bluetooth an die andern weitergab. Nach etwa 60 Minuten hatten alle ihre Fehler gemacht, die eine oder andere Messung wiederholt und die geforderten Datensätze beisammen. Der folgende Tag lieferte eine Fülle von Versuchsprotokollen. Ich sammelte diese zur Durchsicht ein und versuchte herauszufinden, wie weit sich die Schüler die Sinnfrage dieses sicherlich auch spaßigen Versuchs gestellt hatten.

Hier waren sie mir noch nicht kritisch genug. Wir klärten die Frage, was ich mir wohl dabei gedacht hatte und was ich mir in Zukunft von ihnen bei solchen Versuchen wünschte. Mit einem bilderreichen Kurzvortrag über die reale Messwelt der Fliegerei konnte ich beweisen, dass wir mit einfachen Bordmitteln dicht am Original dran waren. Nur dass wir uns eben nicht reinsetzen könnten. »Schade!« kam es aus der letzten Reihe.

Donuts im Kaffeebecher

Nach den guten Erfahrungen mit den Papierfliegern in der Aula traute ich mich sogar ein noch angenehmeres Experiment mit den Schülern zu machen. Für dieses Experiment seien die letzten 30 Minuten des heutigen Unterrichts vorgesehen und ich übernähme sämtliche Kosten. Fragende und gespannte Blicke erreichten mich, aber gefragt hat keiner etwas. Mit dieser Ansage ließ ich sie im ersten Teil des Unterrichts allein und wir sprachen über Wirbel. Ich hatte am Morgen wie zufällig und wenig wertschätzend einen Becher Kaffee aus der Mensa mitgebracht und auf dem Lehrertisch abgestellt. Es war neun Uhr und ich wurde an unseren Versuch erinnert. Ich erklärte, dass ich die eigenen Versuchsbeobachtungen und die eines anderen im jeweiligen Protokoll lesen wolle. Dass wir gleich den Raum verlassen würden und dass man bitte Papier und Stift zur Protokollierung mitnehmen solle. Ich hob meinen Kaffeebecher hoch und zeigte die Versuchsdurchführung. Die Schüler sollten den Löffel von einem Becherrand zum anderen innerhalb etwa einer Sekunde ziehen und beschreiben, was sie sahen. Immer noch fragende Blicke. Ich wunderte mich, dass noch immer keiner eine Idee hatte, was jetzt kommen sollte. Es wurde aber sofort verstanden, als ich sagte, dass an der Mensakasse eine Namensliste ausliege und man nur seinen Namen sagen müsse. Den Kaffee oder Tee würde ich bezahlen. Jetzt hatten es die Letzten verstanden und die Meute machte sich auf in die Mensa.

Bei diesem Versuch sollte mein Vertrauen wieder belohnt werden. Jeder stattete sich mit einem Heißgetränk seiner Wahl aus und schaute, was hinter dem Löffel passierte. Die Klasse saß geschlossen zusammen, diskutierte über die Beobachtungen und später auch über weitere fachfremde Themen. Ich ging zweimal zwischendurch herum und achtete darauf, dass jeder etwas zu Papier gebracht hatte. Dementsprechend sollte ich mit guten Protokollen am nächsten Schultag belohnt werden.

Gegen Ende leitete ich von der zwei- zur dreidimensionalen Aerodynamik mit Wirbelmodell über. Wir sprachen über Donuts (Ringwirbel) und den Energieaustausch im Wirbelmodell. Aber auch hier handelt es sich nur um ein »Modell« und ich wusste, dass man an einer Waldorfschule in der 9. Klasse nach Möglichkeit nicht mit Modellen arbeitet. Und ich bemerkte tatsächlich, dass bei den Schülern das Wirbelmodell nicht richtig landete. Zum Schluss schrieben wir die Klassenarbeit und gönnten uns an den restlichen beiden Tagen meiner Aushilfstätigkeit eine freie Diskussionsrunde über die Schule und Unterrichtsgestaltung sowie einen Vortrag mit vielen Bildern über die (Segel-)Fliegerei.

Am letzten Tag gab ich die Klassenarbeit zurück und verabschiedete mich und hatte doch tatsächlich einen Kloß im Hals.