Plädoyer für ein freies Bildungswesen

Albert Vinzens

»Ich lebe in Europa, ich bin für von Hentig – das ist ganz einfach.« So lautete die Antwort einer Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Kassel, als sie vor einem Jahr von einer Diplomandin gefragt wurde, ob sie für Ivan Illich sei, der sich für die Abschaffung des Schulsystems eingesetzt hat, oder ob sie Hartmut von Hentig bevorzuge, der die Schule von ihrem negativen Makel der Verschultheit befreien, ihren institutionellen Charakter hingegen beibehalten wollte.

Dass es inzwischen auch an Universitäten andere Reaktionen auf diese Frage gibt, beweist das akademische Gutachten, welches der Diplomarbeit »Menschenbildung in einer globalisierten Welt« von Clara Steinkellner an der Universität Wien ausgestellt wurde. Inzwischen als Buch erschienen, geht diese Arbeit über die Ideen von Hentig hinaus. Es setzt da an, wo Illich und Gustavo Esteva, und lange vor ihnen schon Pestalozzi, Wilhelm von Humboldt, Max Stirner, Lew Tolstoi, und Rudolf Steiner eine entstaatlichte, zweckfreie und menschenwürdige Bildung etablieren wollten.

Im ersten Teil des Buches wird Bildung mit den Worten Pestalozzis als »Sache des Individuums« beschrieben, das sich in »Mannigfaltigkeit und Tätigkeit« für das Leben rüstet, wie Humboldt schrieb. Für Stirner ist Bildung anarchische »restlose Selbstbestimmung der Individualität«. Wird der Selbstentwicklungsanteil des sich bildenden Menschen erkannt und geachtet, greifen Erzieherinnen und Lehrer nicht länger reglementierend in den Bildungsprozess ein – weil wir nicht davon ausgehen können, »dass ein Mensch wissen kann, was ein Mensch wissen muss«, wie Tolstoi sagt. Vielmehr kümmern sie sich in den Worten Steiners darum, dass sie die »günstigste Umgebung abgeben«, indem sie Freude verbreiten. Wo der Andere nicht als dressierbares Geschöpf, sondern als Schöpfer aufgefasst wird, findet Bildung statt.

Das Buch sprengt nirgends den Rahmen akademischer Verbindlichkeit, holt aber manchmal erstaunliche, immer aber begeisternde und entwaffnende Zitate auf die Bühne der Bildungsdebatte und stellt sie in globale Denkzusammenhänge. Die Selektionsmechanismen und Standardisierungswünsche von Wirtschaft und Staat werden in ihren erschreckenden Einseitigkeiten erfasst, beleuchtet und hinterfragt. Dennoch verbreitet das Buch nicht Angst oder Wut. Vielmehr macht es Mut zur Veränderung.

Clara Steinkellner: Menschen­bildung in einer globalisierten Welt – Perspektiven einer zivilgesellschaftlichen Selbstverwaltung unserer Bildungsräume, brosch., 298 S., EUR 18,–. Verlag Edition Immanente, Berlin 2012